diff --git a/README.md b/README.md index 6a752d5..7842420 100644 --- a/README.md +++ b/README.md @@ -1,3 +1,10 @@ # 🗳️ Ersatzstimme-Wiki Dieses Wiki bündelt alle wichtigen Infos rund um das Wahlsystem der Ersatzstimme, zusammengestellt von [Mark Rothermel](https://rothermel.me). -### [👉🏻 Hier geht's zum Wiki](https://ersatzstimme.wiki) \ No newline at end of file +### [👉🏻 Hier geht's zum Wiki](https://ersatzstimme.wiki) + +### Quartz-Server starten +Um den Quartz-Server lokal zu Testzwecken zu starten, führe im Projekt-Root-Verzeichnis folgendes Kommando aus: +```bash +npx quartz build --serve +``` +Anschließend kannst du per http://localhost:8080/ auf den Server zugreifen. \ No newline at end of file diff --git a/content/Literatur/Dilger 2021.md b/content/Literatur/Dilger 2021.md index 3b72075..b4af819 100644 --- a/content/Literatur/Dilger 2021.md +++ b/content/Literatur/Dilger 2021.md @@ -1,3 +1,6 @@ -### Alexander Dilger (2021) -**"Einfache Vermeidung von Stimmverlusten durch Prozent-Hürden" im Diskussionspapier des Instituts für Organisationsökonomik**. [Zum Paper](https://www.wiwi.uni-muenster.de/io/de/forschen/downloads/DP-IO_07_2021) -Beleuchtet die Präferenzwahl als effektive Maßnahme gegen Stimmverluste durch die 5%-Hürde. Schlägt als vereinfachende Alternative vor, dass nicht die Wähler ihre nachfolgende Alternativpartei bestimmen, sondern die Partei selbst. In diesem Modell legt die Partei im Voraus fest, an welche andere Partei ihre Stimmen gehen sollen, falls sie selbst die Hürde nicht überwindet. So setzt der Wähler weiterhin nur ein einzelnes Kreuz. \ No newline at end of file +--- +title: Einfache Vermeidung von Stimmverlusten durch Prozent-Hürden +--- +##### Alexander Dilger (2021) im Diskussionspapier des Instituts für Organisationsökonomik - [Zum Paper](https://www.wiwi.uni-muenster.de/io/de/forschen/downloads/DP-IO_07_2021) + +Beleuchtet die Präferenzwahl als effektive Maßnahme gegen Stimmverluste durch die 5%-Hürde. Schlägt als vereinfachende Alternative vor, dass nicht die Wähler ihre nachfolgende Alternativpartei bestimmen, sondern die Partei selbst. In diesem Modell legt die Partei im Voraus fest, an welche andere Partei ihre Stimmen gehen sollen, falls sie selbst die Hürde nicht überwindet. So setzt der Wähler weiterhin nur ein einzelnes Kreuz. diff --git a/content/Literatur/Graeb 2018.md b/content/Literatur/Graeb 2018.md index c57f3a8..24d0d13 100644 --- a/content/Literatur/Graeb 2018.md +++ b/content/Literatur/Graeb 2018.md @@ -1,4 +1,7 @@ -### Graeb und Vetter (2018) -**"Ersatzstimme statt personalisierter Verhältniswahl: Mögliche Auswirkungen auf die Wahlen zum Deutschen Bundestag"** [Zum Paper](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf) +--- +title: "Ersatzstimme statt personalisierter Verhältniswahl: Mögliche Auswirkungen auf die Wahlen zum Deutschen Bundestag" +--- +##### Frederic Graeb und Angelika Vetter (2018) in Zeitschrift für Parlamentsfragen - [Zum Paper](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf) + Untersuchte empirisch anhand einer Wahlumfrage unter knapp 900 Personen, wie sich die Ersatzstimme auf das Wahlverhalten auswirkt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Einführung einer Ersatzstimme dazu führen könnte, dass kleinere Parteien mehr Hauptstimmen erhalten, während gleichzeitig die etablierten Parteien durch die Ersatzstimmen profitieren könnten. Die Autoren betonen, dass die Einführung einer Ersatzstimme das Wahlverhalten und die Zusammensetzung des Bundestags signifikant beeinflussen würde. Wähler würden eher ihrer Präferenz folgen und kleinere Parteien mit der Hauptstimme wählen, während sie die Ersatzstimme strategisch nutzen, um sicherzustellen, dass ihre Stimme im Parlament repräsentiert wird. Dies könnte zu einer genaueren Abbildung der Wählerpräferenzen bei der Hauptstimme führen, während die unveränderte Sperrklausel weiterhin die Fragmentierung des Parlaments begrenzt. Allerdings wird darauf hingewiesen, dass die Auswirkungen in der Realität möglicherweise **stärker** ausfallen könnten, da die Komplexität des neuen Wahlsystems und die Gewöhnung der Wähler an dieses System in der Studie nicht vollständig abgebildet werden konnten. \ No newline at end of file diff --git a/content/Literatur/Hellmann 2016.md b/content/Literatur/Hellmann 2016.md index 16d4291..8b6b492 100644 --- a/content/Literatur/Hellmann 2016.md +++ b/content/Literatur/Hellmann 2016.md @@ -1,3 +1,8 @@ -**"Weg vom Pfadabhängigkeitsproblem: Präferenzwahl in Mehrpersonenwahlkreisen als Reformoption des Bundeswahlrechts?" in Zeitschrift für Parlamentsfragen**. [Zum Paper](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2016-2-389/weg-vom-pfadabhaengigkeitsproblem-praeferenzwahl-in-mehrpersonenwahlkreisen-als-reformoption-des-bundeswahlrechts-jahrgang-47-2016-heft-2?page=1) -Das Dokument argumentiert, dass **Single Transferrable Vote** (STV, eine Variante der Präferenzwahl für Mehrkandidatenwahlkreise) eine vielversprechende Alternative zur personalisierten Verhältniswahl sein könnte, da es proportionalere Ergebnisse und eine größere Wählerpartizipation (Ausdrucksfähigkeit des Wählerwillens) bietet. +--- +title: "Weg vom Pfadabhängigkeitsproblem: Präferenzwahl in Mehrpersonenwahlkreisen als Reformoption des Bundeswahlrechts?" +--- +##### Daniel Hellmann (2016) in Zeitschrift für Parlamentsfragen - [Zum Paper](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2016-2-389/weg-vom-pfadabhaengigkeitsproblem-praeferenzwahl-in-mehrpersonenwahlkreisen-als-reformoption-des-bundeswahlrechts-jahrgang-47-2016-heft-2?page=1) + +Hellmann argumentiert, dass **Single Transferrable Vote** (STV, eine Variante der Präferenzwahl für Mehrkandidatenwahlkreise) eine vielversprechende Alternative zur personalisierten Verhältniswahl sein könnte, da es proportionalere Ergebnisse und eine größere Wählerpartizipation (Ausdrucksfähigkeit des Wählerwillens) bietet. + Dennoch müssten die Implikationen und möglichen Nachteile einer solchen Reform gründlich geprüft werden, bevor eine Implementierung in Deutschland in Betracht gezogen wird​. \ No newline at end of file diff --git a/content/Literatur/PBD BB 2024.md b/content/Literatur/PBD BB 2024.md new file mode 100644 index 0000000..a2dac86 --- /dev/null +++ b/content/Literatur/PBD BB 2024.md @@ -0,0 +1,35 @@ +--- +title: Gutachten des Parlamentarischen Beratungsdiensts in Brandenburg 2024 über die Integrierte Stichwahl +--- +##### Dr. Stefan Lenz (Juni 2024) - [Zum Gutachten](https://www.parlamentsdokumentation.brandenburg.de/starweb/LBB/ELVIS/parladoku/w7/gu/36.pdf) +## Zusammenfassung +Der Parlamentarische Beratungsdienst des Brandenburger Landtags analysierte 2024 auf 139 Seiten das System der [[Integrierte Stichwahl|Integrierten Stichwahl]] (ein zur Ersatzstimme eng verwandtes System) für die Wahl von Bürgermeistern und Landräten. Das Gutachten befindet die Integrierte Stichwahl (selbst in alternativen Ausführungen) für verfassungskonform hinsichtlich sowohl Grundgesetz als auch Landesverfassung. Einzig kritisch sei das **Optionsmodell**, wonach den Kommunen freigestellt wird, selbst zu entscheiden, ob sie die Integrierte Stichwahl für die Wahl ihrer Bürgermeister bzw. Landräte anwenden. Der Grund liegt darin, dass die kommunalen Entscheidungsträger den Wechsel des Wahlsystems mit der Absicht herbeiführen könnten, ihre Konkurrenz gezielt zu benachteiligen. Demnach müsse der Landesgesetzgeber die Integrierte Stichwahl wenn, dann für alle Kommunen einführen. +## Verfassungsmäßigkeit +Die Einführung der Integrierten Stichwahl im gesamten Land für die Wahl von Bürgermeistern und Landräten ist sowohl mit dem Grundgesetz als auch mit der Landesverfassung von Brandenburg vereinbar. Das Gutachten prüft in Detail die Einhaltung +- der **Wahlrechtsgrundsätze** (Freiheit, Unmittelbarkeit, Gleichheit, Allgemeinheit, Öffentlichkeit und Geheimheit), +- des Rechts der Parteien und Kandidaten auf **Chancengleichheit** im politischen Wettbewerb und in der Wahl und +- des Verfassungsgebots der **Bestimmtheit** und **Normenklarheit** +und befindet dabei positiv die Einhaltung aller Punkte. + +Dabei ist unabhängig, +- ob eine ein- oder mehrstufige Aggregation angewendet wird, +- ob eine oder mehrere Nebenstimmen zugelassen sind (insbesondere schließt dies das System der Ersatzstimme ein), +- wie die fiktiven Wahlgänge aufgefasst werden und +- ob alle Nebenstimmen verpflichtend verwendet werden müssen. + +Die Erfolgschancengleichheit ist erfüllt, weil dieselben Regeln für alle Wähler unterschiedslos gelten. "Auch die Zählwertgleichheit ist gegeben, weil jedem Wahlberechtigten bei der Wahlhandlung gleich viele Stimmen zustehen." +"Entscheidend ist also, dass Präferenzstimmen desselben Wählers nie kumulativ, sondern alternativ gutgeschrieben werden." +## Monotonieversagen +Es kann passieren, "dass ein Wähler zwar für seinen bevorzugten Kandidaten stimmt, ihm aber noch mehr genützt hätte, wenn er ein ganz bestimmtes alternatives Stimmverhalten gezeigt hätte." + +Das BVerfG hält dies für verfassungswidrig, wenn der Umstand durch einfache Anpassungen des Wahlrechts vermieden werden könnte, ohne dabei den Wahlsystemtyp verlassen zu müssen. Das Monotonieversagen aber ist eigen und unvermeidbar in Präferenzwahlsystemen. Eine Vermeidung würde also eine Abwendung vom gesamten Wahlsystemtyp zur Folge haben. "Daher ist die Integrierte Stichwahl mit den Maßstäben des BVerfG vereinbar." +## Normenklarheit +Die Integrierte Stichwahl und auch die Ersatzstimme lassen "sich so in Rechtsform gießen, dass die Wahlorgane sie ordnungsgemäß anwenden können und das gebotene Maß an Verständlichkeit der Vorschriften für juristisch nicht vorgebildete Wahlberechtigte nicht unterschritten wird." +## Verletzung der Chancengleichheit im Optionsmodell +Überlässt das Land den einzelnen Kommunen die Entscheidung, ob sie konventionell oder per integrierter Stichwahl wählen wollen (**Optionsmodell**), so begeht der Gesetzgeber wahrscheinlich eine Verletzung der Chancengleichheit der Parteien/Kandidaten zwar nicht in der Wahl, aber *im Wettbewerb*. + +"Da das Wahlsystem die Erfolgsbedingungen im politischen Wettbewerb bestimmt, ist jede Wahlrechtsänderung geeignet, irgendjemandes Wettbewerbschancen, also seine Aussichten auf den Gewinn von Ämtern und Mandaten, faktisch zu schmälern." Dass die Wettbewerbschancen der Wahlbewerber verändert werden, hat jede Wahlreform an sich und ist unproblematisch, solange für jeden Wahlbewerber unterschiedslos dieselben Regeln gelten. + +Entscheidend aber ist, dass zu erwarten ist, dass in manchen Fällen die kommunalen Entscheidungsträger die Umstellung des Wahlsystems mit der Motivation durchführen werden, andere (oppositionelle) Wettbewerber gezielt zu benachteiligen (**Benachteiligungsabsicht**). Kommunale Entscheidungsträger können nämlich verlässliche Vorhersagen über die Chancen der Bewerber treffen. Dieser Umstand ist nicht verfassungskonform und diesen hätte der Landesgesetzgeber mittelbar zu verantworten, was als Verfassungsbruch zu werten wäre. Deshalb sei das Optionsmodell wahrscheinlich nicht zulässig. +## Anwendbarkeit +Das Gutachten hält fest, dass das System der Ersatzstimme zum selben Wahlsystemtyp ("Präferenzstimmsystem") zählt wie die Integrierte Stichwahl. Besonders im Fall der Londoner Bürgermeisterwahl, welche die Ersatzstimme anwendete, unterscheidet das Gutachten nicht von der Integrierten Stichwahl. Entsprechend dürften alle getroffenen Argumente auch auf die Ersatzstimme anwendbar sein. \ No newline at end of file diff --git "a/content/Sonstiges/Erg\303\244nzendes.md" "b/content/Sonstiges/Erg\303\244nzendes.md" index a88ef43..d991258 100644 --- "a/content/Sonstiges/Erg\303\244nzendes.md" +++ "b/content/Sonstiges/Erg\303\244nzendes.md" @@ -22,5 +22,7 @@ Zwar werden es durch dieses Verfahren mehr auszuzählende Stapel, jedoch bleibt Zu erwarten ist, dass sich die Auszähldauer bis zur Verkündung des vorläufigen Endergebnisses nur geringfügig erhöhen wird, zumal die Verteilung der Sitze an die Parteien bereits nach der Auswertung der Listenstimmen feststeht, wohingegen die Auswertung der Wahlkreisstimmen nur die Sitze den Mandaten zuordnet. Da im obigen Auszählungsverfahren bereits sämtliche abgegebene Stimmen ausgezählt werden, kann die Aggregation der ausgewerteten Haupt- und Ersatzstimmen in die Sitzverteilung vollständig automatisiert erfolgen. Erneute Auszählungen aufgrund von Eliminierungen sind daher unnötig. +## Legitimierung der Wahlreform +Grundsätzlich ist es denkbar, eine Wahlreform als Referendum der Bevölkerung zur Wahl zu stellen. Dies beseitigt insbesondere das Problem der möglichen [[PBD BB 2024|Benachteiligungsabsicht]]. ## Wissenschaftliche Begleitung Da das System der Ersatzstimme im deutschsprachigen Raum neu ist, bietet es sich an, seine Effekte genau zu untersuchen. Mit wissenschaftlichen Studien kann die Akzeptanz des neuen Systems geprüft werden, ebenso das Verständnis der Regeln sowie das Wahlverhalten. \ No newline at end of file diff --git a/content/Wahlsysteme & Begriffe/Erfolgschancengleichheit.md b/content/Wahlsysteme & Begriffe/Erfolgschancengleichheit.md new file mode 100644 index 0000000..828c0a7 --- /dev/null +++ b/content/Wahlsysteme & Begriffe/Erfolgschancengleichheit.md @@ -0,0 +1 @@ +"**Erfolgschancengleichheit** herrscht, wenn jede Stimme bei der Überführung einer Stimmverteilung in eine Mandats- oder Ämtervergabe gleichbehandelt wird." ([[PBD BB 2024|Parlamentarischer Beratungsdienst BB, 2024]]) Für alle Wählerstimmen gelten also unterschiedslos dieselben Regeln. \ No newline at end of file diff --git a/content/Wahlsysteme & Begriffe/Erfolgswertgleichheit.md b/content/Wahlsysteme & Begriffe/Erfolgswertgleichheit.md index 5b78f7f..395ceee 100644 --- a/content/Wahlsysteme & Begriffe/Erfolgswertgleichheit.md +++ b/content/Wahlsysteme & Begriffe/Erfolgswertgleichheit.md @@ -1 +1,5 @@ -Bei der Umrechnung des Wahlergebnisses in Parlamentssitze zählt die Stimme jedes Wählers gleich. \ No newline at end of file +**Erfolgswertgleichheit** (nicht zu verwechseln mit der [[Erfolgschancengleichheit]]) herrscht, "wenn jeder mit seiner Stimme die Zusammensetzung einer Volksvertretung oder die Ämterbesetzung gleichermaßen beeinflusst." ([[PBD BB 2024|Parlamentarischer Beratungsdienst BB, 2024]]) + +Erfolgswertgleichheit ist bei Mehrheitswahlen inhärent praktisch nicht erfüllbar, da nur die Stimmen des Wahlsiegers Erfolg haben. Für vollständige Erfolgswertgleichheit müssten alle Wähler denselben Kandidaten wählen. + +Mithilfe der Ersatzstimme lässt sich der Abstand zur Erfolgswertgleichheit verringern, weil durch die Ersatzstimme schlussendlich mehr Stimmen zum Erfolg geführt werden. \ No newline at end of file diff --git "a/content/Wahlsysteme & Begriffe/Z\303\244hlwertgleichheit.md" "b/content/Wahlsysteme & Begriffe/Z\303\244hlwertgleichheit.md" index f562220..ed9f61e 100644 --- "a/content/Wahlsysteme & Begriffe/Z\303\244hlwertgleichheit.md" +++ "b/content/Wahlsysteme & Begriffe/Z\303\244hlwertgleichheit.md" @@ -1 +1 @@ -Bei der Ermittlung des Wahlergebnisses zählt die Stimme jedes Wählers gleich viel. \ No newline at end of file +"**Zählwertgleichheit** herrscht, wenn jedem Wahlberechtigten bei der Wahlhandlung die gleiche Zahl an Stimmen zusteht." ([[PBD BB 2024|Parlamentarischer Beratungsdienst BB, 2024]]) Insbesondere wird beim Stimmgewicht zwischen verschiedenen Wählern nicht unterschieden - die Stimmen aller Wähler zählen gleich viel. \ No newline at end of file diff --git a/content/index.md b/content/index.md index 2209eb0..4b9445e 100644 --- a/content/index.md +++ b/content/index.md @@ -2,20 +2,22 @@ title: Die Ersatzstimme description: "Alles über das Wahlsystem der Ersatzstimme: Stärken, Schwächen, Erfahrungen, Gutachten etc." --- -###### Mark Rothermel - Version 3.1 +###### Mark Rothermel - Version 3.2 Dieses Mini-Wiki bündelt alle wichtigen Informationen rund um das Wahlsystem der Ersatzstimme. ## Zusammenfassung -Das aktuelle deutsche Wahlsystem leidet unter einigen Schwächen. Durch die 5%-Hürde gehen regelmäßig große Mengen Stimmen verloren (rund 4 Mio bei der BTW 2021 und 22,3% bei der LTW im Saarland 2022). Der Stimmenverlust ist nicht nur ein Einschnitt in die Wahlgleichheit, sondern schwächt auch die Repräsentativität des Wahlergebnisses und damit die Legitimität des Wahlsiegers. Außerdem ruft das System Wählerdilemmas hervor, die zum taktischen Wahlverhalten zwingen, besonders bei Mehrheitswahlen. Zusätzlich begünstigt das Wahlsystem extremistische Kandidaten und fördert Polarisierung. Kleine und neue Parteien oder Kandidaten werden durch das taktische Wahlverhalten künstlich benachteiligt. +Das aktuelle deutsche Wahlsystem leidet unter einigen Schwächen. Durch die 5%-Hürde gehen regelmäßig große Mengen Stimmen verloren (rund 4 Mio bei der Bundestagswahl 2021 und 22,3% bei der Landtagswahl im Saarland 2022). Der Stimmenverlust ist nicht nur ein Einschnitt in die Chancengleichheit der Wähler, sondern schwächt auch die Repräsentativität des Wahlergebnisses und damit die Legitimität des Wahlsiegers. Außerdem ruft das System Wählerdilemmas hervor, die zum taktischen Wahlverhalten zwingen, besonders bei Mehrheitswahlen. Zusätzlich begünstigt das Wahlsystem extremistische Kandidaten und fördert Polarisierung. Kleine und neue Parteien oder Kandidaten werden durch das taktische Wahlverhalten künstlich benachteiligt. -Eine in der Wissenschaft vielfach diskutierte und empfohlene ([Decker, 2016](https://www.jstor.org/stable/43977129); [Jesse, 2016](https://www.jstor.org/stable/26428892); [Holste, 2007](https://www.jstor.org/stable/23428831); [Dilger, 2021](https://www.wiwi.uni-muenster.de/io/de/forschen/downloads/DP-IO_07_2021)), jedoch in der Politik bisher begrenzt beleuchtete Lösung ist die Einführung der **Ersatzstimme**. Die Ersatzstimme ist eine freiwillige zweite Stimme, mit der der Wähler eine zweite Präferenz angeben kann, die dann zählt, wenn seine eigentliche Stimme, die sogenannte “Hauptstimme”, unwirksam geworden ist, bspw. aufgrund einer Sperrklausel. Die Ersatzstimme fungiert virtuell wie ein zweiter Wahlgang. Sie mildert nicht nur die o.g. negativen Effekte ([Dilger, 2021](https://www.wiwi.uni-muenster.de/io/de/forschen/downloads/DP-IO_07_2021); [BVerfG Leitsatz, 2017](https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/09/cs20170919_2bvc004614.html); [Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=FUAv4sZ5hB4emHES&t=586)), sondern bringt einige weitere Vorteile mit sich. Dazu zählen eine erhöhte Ausdrucksfähigkeit des Wählerwillens ([Hellmann, 2016](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2016-2-389/weg-vom-pfadabhaengigkeitsproblem-praeferenzwahl-in-mehrpersonenwahlkreisen-als-reformoption-des-bundeswahlrechts-jahrgang-47-2016-heft-2?page=1)), Depolarisierung, Kosteneinsparungen durch Integrierung der Stichwahl in einen einzigen Wahlgang, höhere Wahlbeteiligung und Reduktion von taktischem Kandidaturverzicht. +Eine in der Wissenschaft vielfach diskutierte und empfohlene ([Decker, 2016](https://www.jstor.org/stable/43977129); [Jesse, 2016](https://www.jstor.org/stable/26428892); [Holste, 2007](https://www.jstor.org/stable/23428831); [Dilger, 2021](https://www.wiwi.uni-muenster.de/io/de/forschen/downloads/DP-IO_07_2021)), jedoch in der Politik bisher begrenzt beleuchtete Lösung ist die Einführung der **Ersatzstimme**. Die Ersatzstimme ist eine freiwillige zweite Stimme, mit der der Wähler freiwillig eine zweite Präferenz angeben kann, die dann zählt, wenn seine eigentliche Stimme, die sogenannte “Hauptstimme”, unwirksam geworden ist, bspw. aufgrund einer Sperrklausel. Die Ersatzstimme fungiert virtuell wie ein zweiter Wahlgang. Sie mildert nicht nur die o.g. negativen Effekte ([Dilger, 2021](https://www.wiwi.uni-muenster.de/io/de/forschen/downloads/DP-IO_07_2021); [BVerfG-Urteil, 2017](https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/09/cs20170919_2bvc004614.html); [Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=FUAv4sZ5hB4emHES&t=586)), sondern bringt einige weitere Vorteile mit sich. Dazu zählen eine erhöhte Ausdrucksfähigkeit des Wählerwillens ([Hellmann, 2016](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2016-2-389/weg-vom-pfadabhaengigkeitsproblem-praeferenzwahl-in-mehrpersonenwahlkreisen-als-reformoption-des-bundeswahlrechts-jahrgang-47-2016-heft-2?page=1)), Depolarisierung, Kosteneinsparungen durch Integrierung der Stichwahl in einen einzigen Wahlgang, höhere Wahlbeteiligung und Reduktion von taktischem Kandidaturverzicht. -Allerdings ist die Wahl mit Ersatzstimme komplizierter als die Wahl mit einer Stimme, was die Anzahl ungültiger Stimmen steigern kann. Zudem erfordert die Auszählung mehr Aufwand und die Ergebnisse sind anspruchsvoller nachzuvollziehen. Es besteht auch die Möglichkeit, dass mehr kleine Parteien die 5%-Hürde schaffen könnten, da Wähler aufgrund des beseitigten Verlustrisikos eher dazu bereit sind, sie zu wählen. Dies könnte zu mehr Parteien in Koalitionen führen. Außerdem ist das Konzept der Ersatzstimme relativ unbekannt, weshalb eine Umgewöhnung der Bevölkerung nötig werde. Während bisherige Gutachten die Verfassungsmäßigkeit der Ersatzstimme nicht abschließend bestimmten, betrachtet die rechtswissenschaftliche Literatur die Ersatzstimme "vielfach als verfassungskonform" ([Wiss. Dienst d. BT, 2022](https://www.bundestag.de/resource/blob/916908/b6b6d93b8c360555df03d65038f7c630/WD-3-117-22-pdf.pdf)). Zwar könnten die Grundsätze der Unmittelbarkeit sowie der Gleichheit der Wahl berührt sein, was sich jedoch ggf. mit der Milderung der Sperrklauseleffekte rechtfertigen ließe. Das BVerfG sah 2017 keine Pflicht des Gesetzgebers, die Ersatzstimme einzuführen ([BVerfG Leitsatz, 2017](https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/09/cs20170919_2bvc004614.html)). Das neuliche Urteil des BVerfG zur Wahlrechtsreform der Ampel ([BVerfG-Pressemitteilung, 2024](https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2024/bvg24-064.html)) hielt fest, dass die 5%-Sperrklausel in ihrer reinen Form (ohne Grundmandatsklausel) zu stark in die Wahlgleichheit eingreifen würde. Das BVerfG ruft explizit zur Reform der Sperrklausel auf. +Allerdings ist die Wahl mit Ersatzstimme komplizierter als die Wahl mit einer Stimme, was die Anzahl ungültiger Stimmen steigern könnte. Zudem ist die Auszählung aufwendiger und die Ergebnisse sind etwas anspruchsvoller nachzuvollziehen. Es besteht auch die Möglichkeit, dass mehr kleine Parteien die 5%-Hürde schaffen könnten, da Wähler aufgrund des beseitigten Verlustrisikos eher dazu bereit sind, sie zu wählen. Dies könnte zu mehr Parteien in Koalitionen führen. Außerdem ist das Konzept der Ersatzstimme relativ unbekannt, weshalb eine Umgewöhnung der Bevölkerung nötig werde. -In Deutschland sind aktuell keine öffentlichen Wahlen mit Ersatzstimme implementiert. Initiativen zur Einführung wurden 2012 in Schleswig-Holstein sowie 2015 im Saarland, in beiden Fällen von den Piraten, unternommen, fanden jedoch keine Mehrheit. 2022 wurde die Ersatzstimme im Rahmen der Bundestagswahlreform als Lösung zur Vermeidung verwaister Wahlkreise diskutiert, jedoch nicht umgesetzt. Seit 2024 wird in Brandenburg die Einführung der mit der Ersatzstimme verwandten "Integrierten Stichwahl" diskutiert. +Ein besonders aktuelles Gutachten des Parlamentarischen Beratungsdienstes in Brandenburg ([[PBD BB 2024|Lenz, 2024]]) kam zum Schluss, dass die Ersatzstimme verfassungskonform ist. Diese Einschätzung wird auch "vielfach" von der rechtswissenschaftlichen Literatur geteilt ([Wiss. Dienst d. BT, 2022](https://www.bundestag.de/resource/blob/916908/b6b6d93b8c360555df03d65038f7c630/WD-3-117-22-pdf.pdf)). Das BVerfG sah 2017 keine Pflicht des Gesetzgebers, die Ersatzstimme einzuführen ([BVerfG Leitsatz, 2017](https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/09/cs20170919_2bvc004614.html)). Das neuliche Urteil des BVerfG zur Wahlrechtsreform der Ampel ([BVerfG-Pressemitteilung, 2024](https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2024/bvg24-064.html)) hielt fest, dass die 5%-Sperrklausel in ihrer reinen Form (ohne Grundmandatsklausel) zu stark in die Wahlgleichheit eingreifen würde. Das BVerfG ruft explizit zur Reform der Sperrklausel auf. -Die Ersatzstimme ist der einfachste Spezialfall der sogenannten Präferenzwahl, bei der es zusätzlich zur Ersatzstimme beliebig weitere Nebenstimmen gibt, die wie eine Rangfolge fungieren. Obwohl die Präferenzwahl komplizierter ist als die Ersatzstimme, wurden seit 2000 in den USA rund 50 Regionen und Städten die Präferenzwahl implementiert ([FairVote](https://fairvote.org/our-reforms/ranked-choice-voting-information/#where-is-ranked-choice-voting-used)). Umfragen zeigen, dass Wähler das System gut verstehen und bevorzugen. In Ländern wie Irland, Australien und Malta wird die Präferenzwahl seit einem Jahrhundert in spezieller Form für Parlamentswahlen angewendet. +In Deutschland sind aktuell keine öffentlichen Wahlen mit Ersatzstimme implementiert. Initiativen zur Einführung wurden 2012 in Schleswig-Holstein sowie 2015 im Saarland, in beiden Fällen von den Piraten, unternommen, fanden jedoch keine Mehrheit. 2022 wurde die Ersatzstimme im Rahmen der Bundestagswahlreform als Lösung zur Ermittlung alternativer Wahlkreissieger für den Fall fehlender Zweitstimmendeckung diskutiert, jedoch nicht umgesetzt. Seit 2024 wird in Brandenburg die Einführung der mit der Ersatzstimme verwandten "Integrierten Stichwahl" diskutiert ([[PBD BB 2024|Lenz, 2024]]). -Die positiven Effekte, die Empfehlungen aus der Wissenschaft und die internationalen Erfahrungen sprechen dafür, dass die Ersatzstimme eine vielversprechende Reformoption für Deutschland ist. +Die Ersatzstimme ist der einfachste Spezialfall der sogenannten Präferenzwahlsysteme, bei der es zusätzlich zur Ersatzstimme beliebig weitere Nebenstimmen gibt, die wie eine Rangfolge fungieren. Obwohl Präferenzwahlen komplizierter sind als die Ersatzstimme, wurden sie seit 2000 in rund 50 Regionen und Städten der USA implementiert ([FairVote](https://fairvote.org/our-reforms/ranked-choice-voting-information/#where-is-ranked-choice-voting-used)). Umfragen zeigen, dass Wähler das System gut verstehen und bevorzugen. In Ländern wie Irland, Australien und Malta wird die Präferenzwahl seit einem Jahrhundert in spezieller Form für Parlamentswahlen angewendet. + +Die positiven Effekte, die Empfehlungen aus der Wissenschaft, die Gutachten und die internationalen Erfahrungen sprechen dafür, dass die Ersatzstimme eine vielversprechende Reformoption für Deutschland ist. ## Einleitung: Wir brauchen eine Wahlreform Im August 1949 fand die erste Bundestagswahl statt. Seit nun über 75 Jahren ist das deutsche Wahlsystem das Fundament eines bislang stabilen und geregelten politischen Systems, das für Freiheit, Gerechtigkeit und Teilhabe steht. Mit der personalisierten Verhältniswahl hat Deutschland ein Wahlsystem, das die Vielfalt der politischen Meinungen im Land abbildet und zugleich Dank 5%-Hürde stabile und arbeitsfähige Mehrheiten schafft. @@ -186,9 +188,8 @@ Einige der Schwächen können mit [[Ergänzendes|ergänzenden Maßnahmen]] abgem > [!failure]- 7. In der Theorie nicht perfekt > In der Sozialwahltheorie gibt es eine Reihe von [Kriterien](https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialwahltheorie#Qualit%C3%A4tskriterien) zur Beurteilung von Wahlsystemen. Wünschenswerte Wahlsysteme erfüllen möglichst viele Kriterien. Die Ersatzstimme erfüllt mehrere Kriterien nicht, z.B. verletzt sie das [Condorcet-Kriterium](https://de.wikipedia.org/wiki/Condorcet-Methode#Condorcet-Kriterium). Allerdings können laut [Arrow-Theorem](https://de.wikipedia.org/wiki/Arrow-Theorem) ohnehin schon in der Theorie nicht alle Kriterien auf einmal erfüllt werden (s. auch [Wikipedia](https://de.wikipedia.org/wiki/Integrierte_Stichwahl#Eigenschaften:_Kriterien)) . In der Tat gibt es kein Wahlsystem, das "perfekt" ist ([Hellmann, 2016](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2016-2-389/weg-vom-pfadabhaengigkeitsproblem-praeferenzwahl-in-mehrpersonenwahlkreisen-als-reformoption-des-bundeswahlrechts-jahrgang-47-2016-heft-2?page=1)). Der Anspruch einer Wahlrechtsreform muss jedoch nicht sein, perfekt zu sein, sondern das jetzige Wahlsystem in wesentlichen Punkten zu verbessern. -### Offene Fragen -> [!question]- 1. Ungeklärte Verfassungskonformität -> Wenngleich die Rechtswissenschaft den Fall der Ersatzstimme "vielfach als verfassungskonform betrachtet" ([Wiss. Dienst d. BT, 2022](https://www.bundestag.de/resource/blob/916908/b6b6d93b8c360555df03d65038f7c630/WD-3-117-22-pdf.pdf)), sind bisherige Gutachten hier unentschieden ([Wiss. Dienst d. LT von Schleswig-Holstein, 2015](https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&url=https://www.landtag.ltsh.de/infothek/wahl18/umdrucke/5400/umdruck-18-5441.pdf&ved=2ahUKEwi90828hKSHAxW88rsIHY_ZCYEQFnoECBgQAQ&usg=AOvVaw1HwEdR1FjxVEI5OOOF8WeZ), [Wiss. Dienst d. BT, 2022](https://www.bundestag.de/resource/blob/916908/b6b6d93b8c360555df03d65038f7c630/WD-3-117-22-pdf.pdf)). +### Verfassungskonformität +Während vorangehende Gutachten zur Verfassungsmäßigkeit der Ersatzstimme unentschieden waren ([Wiss. Dienst d. LT von Schleswig-Holstein, 2015](https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&url=https://www.landtag.ltsh.de/infothek/wahl18/umdrucke/5400/umdruck-18-5441.pdf&ved=2ahUKEwi90828hKSHAxW88rsIHY_ZCYEQFnoECBgQAQ&usg=AOvVaw1HwEdR1FjxVEI5OOOF8WeZ), [Wiss. Dienst d. BT, 2022](https://www.bundestag.de/resource/blob/916908/b6b6d93b8c360555df03d65038f7c630/WD-3-117-22-pdf.pdf)), befand das sehr aktuelle und ausführliche Gutachten des Parlamentarischen Beratungsdiensts des Brandenburger Landtags ([[PBD BB 2024|Lenz, 2024]]) die Ersatzstimme für **verfassungskonform**. Gestützt wird diese Einschätzung von der Rechtswissenschaft, die die Ersatzstimme übereinstimmend "vielfach als verfassungskonform betrachtet" ([Wiss. Dienst d. BT, 2022](https://www.bundestag.de/resource/blob/916908/b6b6d93b8c360555df03d65038f7c630/WD-3-117-22-pdf.pdf)). ### Besonderheiten und mögliche weitere Effekte der Ersatzstimme - **Mehr Aufmerksamkeit für kleine Parteien**: Weil auch Kleinparteien eine ernsthafte Wahloption darstellen ([Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)), könnten sich im Vorfeld der Wahl die Wähler womöglich mehr mit ihnen auseinandersetzen. Außerdem wollen die großen Parteien die Ersatzstimmen der kleinen Parteien erhalten, wodurch ein Anreiz entsteht, dass die großen Parteien die Wünsche von Kleinpartei-Wählern adressieren ([Institut für Wahlreform](http://www.dualwahl.de/)). - Auf diese Weise können **große Parteien neue Wählerschichten erschließen** ([Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=FUAv4sZ5hB4emHES&t=586)), indem sie nämlich Ersatzstimmen von Wählern erhalten, sie nur Kleinparteien wählen, aber ihre Ersatzstimme zur Absicherung nutzen. Dieser Effekt erhöht auch den **Zusammenhalt** in der Gesellschaft. Kleinpartei-Wähler bekommen das Gefühl, mit ihrer politischen Meinung am Ende doch noch ernst genommen zu werden. So kann die Ersatzstimme die **Identifikation** mit dem System der repräsentativen Demokratie erhöhen ([Institut für Wahlreform](http://www.dualwahl.de/)). @@ -226,28 +227,33 @@ Folgende Länder und Regionen haben die Ersatzstimme oder die Präferenzwahl imp Für weitere Beispiele, siehe [Wikipedia](https://en.wikipedia.org/wiki/History_and_use_of_instant-runoff_voting). ## Literatur ### Juristische Gutachten -- [[WD SH 2015]] -- [[BVerfG 2017]] -- [[WD BT 2022]] -- [[BVerfG 2024]] +Relevanteste zuerst: +- [[PBD BB 2024|Gutachten des Parlamentarischen Beratungsdiensts des Brandenburger Landtags (2024)]] über die [[Integrierte Stichwahl]] für Bürgermeister- und Landratswahlen +- [[WD BT 2022|Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags (2022)]] über die Einführung der Ersatzstimme für den Fall, dass Wahlkreisgewinner aufgrund fehlender Zweitstimmendeckung ausscheiden +- [[WD SH 2015|Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Landtags von Schleswig-Holstein (2015)]] über die Einführung einer Ersatzstimme für die dortige Landtagswahl +- [[BVerfG 2017|Urteil des Bundesverfassungsgerichts (2017)]] über die Pflicht des Gesetzgebers zur Einführung einer Ersatzstimme +- [[BVerfG 2024|Urteil des Bundesverfassungsgerichts (2024)]] über die Verfassungsmäßigkeit der [[Bundestagswahlrechtsreform 2022]] ### Wissenschaftliche Paper -- [[Hellmann 2016]] -- [[Graeb 2018]] -- [[Dilger 2021]] -## Geläufige Gegenargumente & Mythen -> [!question]- Die Ersatzstimme ist für die Wähler zu kompliziert -> **Behauptung**: Wegen der zusätzlichen Stimme sind zu viele Wähler überfordert und verwirrt. Die Folge wäre viele ungültige Stimmzettel. Außerdem sind die Wähler es gewohnt, nur eine Stimme zu vergeben. -> -> **Einordnung**: Andere Länder wie [[Irland]], [[Australien]] und [[Neuseeland]] sowie 50 Regionen in den [[USA]] wenden das wesentlich kompliziertere System der [[Präferenzwahl]] an. Die Erfahrungen dort zeigen, dass selbst die Präferenzwahl von den Bürgern gut verstanden wird. Fehlerraten liegen bei unter 1% (vgl., die BTW 2021 hatte rund 1% fehlerhafte Stimmzettel). Im Übrigen kann auch auf den neuen Stimmzetteln weiterhin nach den alten Regeln gewählt werden, ohne dass der Stimmzettel dadurch ungültig wird. - -> [!question]- Die Ersatzstimme verletzt das Prinzip "One Man, One Vote" +- [Decker (2016)](https://www.jstor.org/stable/43977129) +- [Jesse (2016)](https://www.jstor.org/stable/26428892) +- [Holste (2007)](https://www.jstor.org/stable/23428831) +- [[Graeb 2018|Graeb & Vetter (2018)]] untersuchten anhand einer Befragung die Auswirkungen der Ersatzstimme auf das Wahlverhalten. +- [[Dilger 2021|Dilger (2021)]] untersucht die Präferenzwahl als effektive Maßnahme gegen Stimmverluste durch Sperrklauseln. +- [[Hellmann 2016|Hellmann (2016)]] beleuchtet den Single Transferable Vote (STV), eine Variante des Präferenzwahlrechts, als Alternative zur personalisierten Verhältniswahl. +## Geläufige Irrtümer +> [!question]- Die Ersatzstimme ist für die Wähler zu kompliziert. +> **Behauptung**: Wegen der zusätzlichen Stimme sind zu viele Wähler überfordert und verwirrt. Die Folge wären viele ungültige Stimmzettel. Außerdem sind die Wähler es gewohnt, nur eine Stimme zu vergeben. +> +> **Einordnung**: Andere Länder wie [[Irland]], [[Australien]] und [[Neuseeland]] sowie 50 Regionen in den [[USA]] wenden das wesentlich kompliziertere System der [[Präferenzwahl]] an. Die Erfahrungen dort zeigen, dass selbst die Präferenzwahl von den Bürgern gut verstanden wird. Fehlerraten liegen bei unter 1% (vgl., die BTW 2021 hatte rund 1% fehlerhafte Stimmzettel). Die Kommunalwahlen in Hessen und Bayern sind zudem ebenfalls erheblich Komplizierter als ein Ersatzstimmensystem und werden dennoch nicht als problematisch angesehen. Im Übrigen kann auch auf den neuen Stimmzetteln weiterhin nach den alten Regeln gewählt werden, ohne dass der Stimmzettel dadurch ungültig wird. + +> [!question]- Die Ersatzstimme verletzt das Prinzip "One Man, One Vote". > **Behauptung**: Jeder Wähler kann im System der Ersatzstimme ja zwei Stimmen abgeben. Mit der Ersatzstimme verdoppeln sich folglich die Erfolgschancen eines Wählers. > -> **Einordnung**: Stimmt nicht. Die Ersatzstimme kompensiert lediglich den Misserfolg der Hauptstimme. "Im Ergebnis sind damit Zählwert und Erfolgschance der Ersatzstimmen und der dazugezählten \[... Hauptstimmen der Hauptstimme\] anderer Wähler formal gleich." ([Wiss. Dienst d. BT, 2022](https://www.bundestag.de/resource/blob/916908/b6b6d93b8c360555df03d65038f7c630/WD-3-117-22-pdf.pdf)) +> **Einordnung**: Stimmt nicht. Die Ersatzstimme kompensiert lediglich den Misserfolg der Hauptstimme. "Im Ergebnis sind damit Zählwert und Erfolgschance der Ersatzstimmen und der dazugezählten \[... Hauptstimmen der Hauptstimme\] anderer Wähler formal gleich." ([Wiss. Dienst d. BT, 2022](https://www.bundestag.de/resource/blob/916908/b6b6d93b8c360555df03d65038f7c630/WD-3-117-22-pdf.pdf)) Zählwertgleichheit und Erfolgschancengleichheit werden auch mit der Ersatzstimme gewahrt ([[PBD BB 2024|Lenz, 2024]]). > -> Im engeren Sinne handelt es sich bei Haupt- und Ersatzstimme nicht um Stimmen, sondern um *Stimmverfügungen*. Der Wähler kann also zwei Stimmverfügungen angeben, aber nur eine einzige Stimmverfügung kann am Ende wirken. Die wirkende Stimmverfügung repräsentiert dann die Stimme des Wählers. +> Im engeren Sinne handelt es sich bei Haupt- und Ersatzstimme nicht um Stimmen, sondern um *Stimmverfügungen* (der Ausdruck einer Präferenz). Der Wähler kann also zwei Stimmverfügungen angeben, aber nur eine einzige Stimmverfügung kann am Ende wirken. Die wirkende Stimmverfügung repräsentiert dann die Stimme des Wählers. -> [!question]- Die Ersatzstimme fördert taktisches Wählen +> [!question]- Die Ersatzstimme fördert taktisches Wählen. > **Beispiel**: Es ist Bundestagswahl, die CDU liegt in den Umfragen vorn, die FDP nahe der 5%-Hürde. Ein CDU-Wähler hätte gerne die FDP als Koalitionspartner. Um ihr den Sprung über die Sperrklausel zu verhelfen, wählt der CDU-Wähler taktisch die FDP, denn er hat nichts zu verlieren: Entweder verhilft er der FDP wie gewünscht über die 5% oder seine Stimme geht an seine Lieblingspartei, die CDU. > > **Einordnung**: Dieses Phänomen ist nicht neu und nennt sich "Leihstimme". Leihstimmen waren schon in der Vergangenheit bereits ohne die Ersatzstimme vorgekommen, sogar im Rahmen von ganzen Kampagnen ([Zeit Online, 2013](https://www.zeit.de/politik/deutschland/2013-09/FDP-Leihstimme-Bundestagswahl-CDU)). Der Unterschied liegt im Risiko, den der Wähler mit seiner Leihstimme eingeht. Ohne die Ersatzstimme könnte die Leihstimme verloren sein, wenn die FDP die Hürde nicht schafft. Mit Ersatzstimme ist dieses Risiko weg. @@ -258,57 +264,67 @@ Für weitere Beispiele, siehe [Wikipedia](https://en.wikipedia.org/wiki/History_ > 3. Das obige Szenario ist nicht selten, aber dennoch nicht der Regelfall, während andererseits regelmäßig Millionen von Kleinparteiwählern zur taktischen Wahl gezwungen werden. > 4. Speziell im obigen Szenario könnte außerdem folgendermaßen gegenargumentiert werden. Angenommen, die FDP würde an der Sperrklausel scheitern, dann gingen durch die Ersatzstimme ein großer Teil (vielleicht 50%) der FDP-Stimmen an die CDU. Dadurch hat die CDU am Ende vielleicht sogar mehr davon als von einer Koalition mit der FDP. Dieses Argument könnte CDU-Wähler davon abhalten, die FDP mit der Hauptstimme zu wählen. -> [!question]- Der Erfolgswert der Ersatzstimme ist bei den Parteien unterschiedlich => Verletzte Chancengleichheit -> **Einordnung**: Unbelegt und bisher nicht beobachtet. Wahlstrategie der Wähler nicht vorhersehbar, daher ist dieser Einwand hinsichtlich Verfassungstreue nicht im Vorhinein einzuordnen. ([Protokoll Innen- & Rechtsausschuss Schleswig-Holstein](http://www.landtag.ltsh.de/export/sites/ltsh/infothek/wahl18/aussch/iur/niederschrift/2014/18-065_05-14.pdf#page=13)) Der Erfolgswert wäre außerdem nicht geringer im Vergleich zum Erfolgswert der aktuell implementierten Zweitstimme. +> [!question]- Die Ersatzstimme benachteiligt bestimmte Kandidaten und Parteien und sollte daher nicht umgesetzt werden. +> **Behauptung**: Durch die Einführung der Ersatzstimme ändern sich die Erfolgsaussichten der Wahlbewerber. Faktisch gibt es Wahlbewerber, deren Chancen sich dadurch verschlechtern. Deshalb darf die Ersatzstimme nicht eingeführt werden. +> +> **Einordnung**: In der Tat beeinflusst eine Wahlsystemänderung faktisch die Erfolgschancen der Wahlbewerber ([[PBD BB 2024|Lenz, 2024]]). Dies hat jede substantielle Änderung des Wahlrechts an sich und ist unproblematisch, solange für jeden Wahlbewerber unterschiedslos dieselben Regeln gelten. Problematisch wird es erst, wenn die Wahlreform von den politischen Entscheidungsträgern eingeführt wird, um die politische Konkurrenz gezielt zu benachteiligen (*Benachteiligungsabsicht*, s. auch [[PBD BB 2024|Lenz, 2024]]). Demnach ist die Einführung der Ersatzstimme verfassungskonform, solange keine Benachteiligungsabsicht der Regierung besteht. +> +> Außerdem: Würden wir keine Änderung der Wettbewerbschancen zulassen, wäre ein Wechsel des Wahlsystems grundsätzlich nicht mehr möglich. Unser Wahlrecht wäre dann versteinert. -> [!question]- Ein Wähler, dessen Ersatzstimme nicht zum Zuge kam, wird unfair benachteiligt -> **Einordnung**: Unter der realistischen Annahme, dass der Wähler seine Hauptstimme an seine tatsächliche Erstpräferenz vergeben hat, kann vermutlich davon ausgegangen werden, dass die finale Wertung der Stimme (die wie bei anderen Wählern immer höchstens eine ist) im Sinne des Wählers ist. +> [!question]- Sieger kann nur der mit den meisten Hauptstimmen sein. +> **Einordnung**: Mit der Ersatzstimme verändert sich die Definition von "Mehrheit" insofern, dass der Mehrheitssieger nicht mehr derjenige ist, der lediglich die meisten Hauptstimmen auf sich vereinen konnte, sondern den meisten *Rückhalt* hat, also die größte Summe aus Haupt- und übertragenen Ersatzstimmen. Der Rückhalt wiegt schwerer als die bloßen Hauptstimmen, weil der Rückhalt den Wählerwillen besser repräsentiert. Denn Dank der Ersatzstimmen enthält der Rückhalt auch die Meinungen der Wähler, die sonst im alten System gänzlich unberücksichtigt blieben. Entsprechend ist ein Kandidat mit dem größten Rückhalt besser legitimiert als ein Kandidat mit den meisten Hauptstimmen. > -> Gedanklich fungiert die Ersatzstimme ja wie ein zweiter Wahlgang. Wenn der Lieblingskandidat im zweiten Wahlgang wieder antritt, so würde der Wähler diesen (bei gleich bleibender Ausgangslage) wiederwählen. +> Auch wenn die Ersatzstimme lediglich die "zweitbeste" Wahl des Wählers angibt, ist sie ein probates Mittel, weil sie den Wähler vor vollständiger Ignorierung bewahrt. > -> Die Ersatzstimme kompensiert lediglich den Wegfall der Hauptstimme. Sie ist eine Absicherung, die im Sinne des Wählers nur dann greifen soll, wenn die Hauptstimme verfiel. +> Die Ersatzstimme kommt nur dann zum Tragen, wenn der Wähler seine Hauptstimme verliert. Sie ist die letzte Chance, mit der der Wähler seine Wählerstimme verwirklichen kann. Deshalb sind Haupt- und Ersatzstimmen genau gleich viel wert ([[Zählwertgleichheit]]). Diese Gleichheit ermöglicht es, die beiden Zahlen einfach zu summieren. -> [!question]- Sieger kann nur der mit den meisten Hauptstimmen sein -> **Einordnung**: Mit der Ersatzstimme verändert sich die Definition von "Mehrheit" insofern, dass der Mehrheitssieger nicht mehr derjenige ist, der lediglich die meisten Hauptstimmen auf sich vereinen konnte, sondern den meisten *Rückhalt* hat, also die größte Summe aus Haupt- und übertragenen Ersatzstimmen. Der Rückhalt wiegt schwerer als die bloßen Hauptstimmen, weil der Rückhalt den Wählerwillen besser repräsentiert. Deshalb ist ein Kandidat mit dem größten Rückhalt besser legitimiert als ein Kandidat mit den meisten Hauptstimmen. +> [!question]- Das Risiko des Stimmverlusts ist eine bewusste Inkaufnahme des Wählers und verdient daher keine Kompensation durch eine Ersatzstimme. +> **Einordnung**: Dies ist letztlich Wertungsfrage. Warum lassen wir es überhaupt zu, Wähler dem Risiko (ob bewusst oder nicht) auszusetzen? Dadurch zwingen wir sie (im Unterschied zu Wählern etablierter Wahlbewerber) in Dilemmas. Im Ersatzstimmensystem verlagert sich das Dilemma zumindest auf die Ersatzstimme, wodurch wir eine reale Verbesserung für Menschen dieser Wählergruppe erreichen. > [!question]- Das BVerfG hat doch schon geurteilt, dass die Ersatzstimme nicht verfassungskonform ist! > **Einordnung**: Das BVerfG stellte in seinem Urteil ([BVerfG Leitsatz, 2017](https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/09/cs20170919_2bvc004614.html)) keine Verfassungswidrigkeit der Ersatzstimme fest, sondern lediglich, dass es verfassungsrechtlich "nicht geboten" ist, die Ersatzstimme einzuführen. Das bedeutet, dass der Gesetzgeber nicht **verpflichtet** ist, die Ersatzstimme einzuführen (es jedoch könnte). -> [!question]- Die Ersatzstimme stellt die Ernsthaftigkeit der Hauptstimme in Frage +> [!question]- Die Ersatzstimme stellt die Ernsthaftigkeit der Hauptstimme in Frage. > **Behauptung**: Der Wähler könnte seine Hauptstimme im Sinne eines Freischusses vergeben, ohne dass damit die notwendige Ernsthaftigkeit verbunden wäre, die eine Wahlentscheidung erfordert, denn es würde ja immer noch eine weitere Stimme berücksichtigt. Ersatzstimmen sind keine vollwertigen Stimmen. Ein Parlament sollte nur mittels Erstpräferenzen gewählt werden und nicht mit "zweitbesten Voten". > > **Einordnung**: Die Behauptung ist unbegründet. Zunächst gilt, dass für jeden Wähler am Ende höchstens eine Stimme wirksam geworden ist, entweder die Hauptstimme oder die Ersatzstimme oder keine von beiden. Die Ersatzstimme kann nur dann wirksam werden, wenn die Hauptstimme unwirksam ist. Es ist nicht ersichtlich, weshalb der Wähler seine Hauptstimme wahllos oder ohne ernsthafte Erwägungen vergeben sollte, ganz besonders, weil die Hauptstimme die Stimme ist, die zuerst ausgewertet wird. > > Wenn die o.g. Behauptung aus subjektiver Sicht zuträfe, wäre das geltende Wahlrecht nicht besser, weil sich durch die taktische Stimmabgabe aus dem Ergebnis kaum die tatsächlichen Erstpräferenzen der Wähler ablesen lassen. Im Ersatzstimmensystem geben die Hauptstimmen die Erstpräferenzen der Wähler weitestgehend unverfälscht wider. -> [!question]- Die Ersatzstimme stärkt einseitig größere Parteien +> [!question]- Ein Wähler, dessen Haupt-, aber nicht Ersatzstimme zum Zuge kam, wird unfair benachteiligt. +> **Einordnung**: Unter der realistischen Annahme, dass der Wähler seine Hauptstimme an seine tatsächliche Erstpräferenz vergeben hat, kann davon ausgegangen werden, dass ein Erfolg seiner Hauptstimme ganz im Sinne des Wählers ist. Insbesondere würde der Wähler den Erfolg seiner Hauptstimme dem alternativen Erfolg seiner Ersatzstimme vorziehen. Die Ersatzstimme kompensiert lediglich den Wegfall der Hauptstimme. Sie ist eine Absicherung, die im Sinne des Wählers nur dann greifen soll, wenn die Hauptstimme verfiel. +> +> Gedanklich fungiert die Ersatzstimme ja wie ein zweiter Wahlgang. Wenn der Lieblingskandidat im zweiten Wahlgang wieder antritt, so würde der Wähler diesen logischerweise wieder wählen. +> + +> [!question]- Die Ersatzstimme stärkt einseitig größere Parteien. > **Behauptung**: Da diese Ersatzstimme wahrscheinlich einer aussichtsreichen Partei gegeben wird, würden damit im Endeffekt die größeren Parteien gestärkt. > > **Einordnung**: Die Behauptung ist irreführend. Zwar ist in der Tat erwartbar, dass größere Parteien in absoluten Zahlen mehr Stimmen erhalten werden (da zu ihren Hauptstimmen zusätzlich Ersatzstimmen kommen). Allerdings erhöht das nicht ihre Chancen gegenüber den kleinen Parteien, weil sie lediglich die Ersatzstimmen von *bereits gescheiterten* Parteien erhalten. Die Ersatzstimmen führen hauptsächlich zu einer Veränderung der Stimmverteilung der erfolgreichen Parteien, da bspw. die Kleinparteiwähler nun auch "mitreden" können. Dadurch erhöht sich die Legitimität der resultierenden Wahlsieger. -> [!question]- Große Parteien rauben den kleinen Parteien die Wähler +> [!question]- Große Parteien rauben den kleinen Parteien die Wähler. > **Behauptung**: Die Erschließung von Wählern von Kleinparteien in große Parteien könnte den kleinen Parteien schaden. > > **Einordnung**: Diese Behauptung ist sehr hypothetisch. Das hängt stark von den Umständen, der involvierten Parteien, der Themen, der Erschließungsstrategie usw. ab. Es ist jedoch nicht ersichtlich, weshalb der behauptete Effekt großflächig kleinen Parteien schaden würde. -> [!question]- Die Ersatzstimme überfordert Wahlvorstände und Wahlhelfer +> [!question]- Die Ersatzstimme überfordert Wahlvorstände und Wahlhelfer. > **Behauptung**: Wegen der zusätzlichen Stimme und des aufwendigeren Auszählungsverfahrens kommt es zu Problemen. > -> **Einordnung**: Das bayerische und das hessische Kommunalwahlrecht sind beide erheblich komplizierter als das Ersatzstimmensystem - und dennoch funktionieren sie. +> **Einordnung**: Das bayerische und das hessische Kommunalwahlrecht sind beide erheblich komplizierter als das Ersatzstimmensystem - und dennoch funktionieren sie. Auch das Gutachten des Brandenburgischen Parlamentarischen Beratungsdiensts kam zum Ergebnis, dass der Mehraufwand gut zu bewältigen sei ([[PBD BB 2024|Lenz, 2024]]), selbst im komplizierteren Fall der [[Integrierte Stichwahl|Integrierten Stichwhal]]. -> [!question]- Die Ersatzstimme ist trotzdem ungerecht -> **Behauptung**: Wer mit Haupt- und Ersatzstimme kleine Parteien oder erfolglose Kandidaten wählt, bleibt am Ende trotz Ersatzstimme unberücksichtigt, hat also durch die Ersatzstimme nichts gewonnen. +> [!question]- Die Ersatzstimme ist trotzdem ungerecht. +> **Behauptung**: Wer sowohl mit Haupt- als auch Ersatzstimme erfolglose Parteien bzw. Kandidaten wählt, bleibt am Ende trotz Ersatzstimme unberücksichtigt, hat also durch die Ersatzstimme nichts gewonnen. > -> **Einordnung**: Das System der Ersatzstimme ist insgesamt deutlich gerechter als das geltende Wahlrecht, da es in Summe zu deutlich mehr berücksichtigten Wählern führt. Nur im Worst Case verliert ein Wähler beide seine Stimmen. Und bei der Hauptstimme müssen sich die Wähler künftig nicht mehr verbiegen. +> **Einordnung**: Solche Fälle können zwar durchaus auftreten. Das System der Ersatzstimme ist jedoch insgesamt deutlich gerechter als das geltende Wahlrecht, da es in Summe zu deutlich mehr berücksichtigten Wählern führt. Nur im Worst Case verliert ein Wähler beide seine Stimmen. Und bei der Hauptstimme müssen sich die Wähler künftig nicht mehr verbiegen. -> [!question]- Das jetzige Wahlsystem ist doch ausreichend +> [!question]- Das jetzige Wahlsystem ist doch ausreichend. > **Behauptung**: Deutschlands aktuelles Wahlsystem hat zwar seine Macken, aber dann ist das halt so! Es hat sich bewährt, never change a running system! > -> **Einordnung**: Wir haben die Wahl: Entweder belassen wir das Wahlsystem so wie es ist und akzeptieren die Probleme und Schwächen wie mangelnde Repräsentativität, Millionen verlorener Stimmen, taktischer Wahl, Polarisierung, geringer Wahlbeteiligung bei Stichwahlen, unnötigen Durchführungskosten von Stichwahlen etc., oder wir ergreifen aktiv die Chance, eine echte Verbesserung für Deutschlands Demokratie zu erreichen. +> **Einordnung**: Wir haben die Wahl: Entweder belassen wir das Wahlsystem so wie es ist und akzeptieren die Probleme und Schwächen wie mangelnde Repräsentativität, Millionen verlorener Stimmen, taktische Wahl, Polarisierung, geringe Wahlbeteiligung bei Stichwahlen, unnötige Durchführungskosten von Stichwahlen etc., oder wir ergreifen aktiv die Chance, eine echte Verbesserung für Deutschlands Demokratie zu erreichen. ## Weiterführendes ### Ergänzende Maßnahmen Siehe [[Ergänzendes]]. -### Links +### Sonstige Links - [Buch Mehr Demokratie Dank Ersatzstimme?](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783748914983/mehr-demokratie-dank-ersatzstimme?hitid=7152&search-click&page=1 ) - [Gesetzesvorschlag zur Einführung der Ersatzstimme ins BWahlG](http://bwahlg.de/) - [RankedVote: Online-Präferenzwahltool](https://www.rankedvote.co/)