diff --git "a/content/Anh\303\244nge/Musterstimmzettel LTW.png" "b/content/Anh\303\244nge/Musterstimmzettel LTW.png" new file mode 100644 index 0000000..be05482 Binary files /dev/null and "b/content/Anh\303\244nge/Musterstimmzettel LTW.png" differ diff --git a/content/Sonstiges/Hessen.md b/content/Sonstiges/Hessen.md new file mode 100644 index 0000000..3bcb43d --- /dev/null +++ b/content/Sonstiges/Hessen.md @@ -0,0 +1,2 @@ +Die Ersatzstimme könnte bei der Hessischen Landtagswahl auf dem Stimmzettel so aussehen: +![[Musterstimmzettel LTW.png]] \ No newline at end of file diff --git a/content/index.md b/content/index.md index ba27ecb..2209eb0 100644 --- a/content/index.md +++ b/content/index.md @@ -26,28 +26,30 @@ Nach nun 75-jährigem Bestehen ist Zeit für eine tiefgehende Reform des deutsch > [!attention]- 1. Es verschwendet Stimmen > Die Nicht-Berücksichtigung von Wählerstimmen verletzt die Gleichheit der Wahl ([Dilger, 2021](https://www.wiwi.uni-muenster.de/io/de/forschen/downloads/DP-IO_07_2021)). Rund 4 Millionen Stimmen gingen bei der BTW 2021 durch die 5%-Hürde verloren, das waren 8,7% der Stimmen. Viel extremer war es bei der LTW im Saarland 2022, bei welcher 22,3% der Stimmen unberücksichtigt blieben. > -> Bei LTWen der letzten vier Jahre verlor im Mittel mehr als jeder zehnte Wähler seine Stimme, während Anfang der 70er noch nur rund 3% der Wähler waren. Der Steigende Trend unberücksichtigter Wählerstimmen bei LTWen ist tatsächlich deutlich an folgender Grafik erkennbar (entnommen von [wahlreform.de](https://www.wahlreform.de/unberuecksichtigt.pdf)): +> Bei LTWen der letzten vier Jahre verlor im Mittel mehr als jeder zehnte Wähler seine Stimme, während es Anfang der 70er noch nur rund 3% der Wähler waren. Der steigende Trend unberücksichtigter Wählerstimmen bei LTWen ist tatsächlich deutlich an folgender Grafik erkennbar (entnommen von [wahlreform.de](https://www.wahlreform.de/unberuecksichtigt.pdf)): > ![[Pasted image 20240805000147.png]] > Der Trend erklärt sich vor allem anhand von zwei Phänomenen: -> 1. **Die Parteien sind kleiner, aber mehr geworden**. Die Zeiten großer Volksparteien sind vorüber und die Wählerstimmen verteilen sich über eine größere Anzahl Parteien, auch Kleinstparteien.. +> 1. **Die Parteien sind kleiner, aber mehr geworden**. Die Zeiten großer Volksparteien sind vorbei und die Wählerstimmen verteilen sich über eine größere Anzahl Parteien, auch Kleinstparteien.. > 2. **Die Wählerbindung an Parteien ist geringer geworden**: Dadurch ist die Bereitschaft der Wähler, sich von etablierten Parteien abzuwenden, grundsätzlich größer. > > Der Stimmverlust beeinträchtigt die [[Erfolgswertgleichheit]] ([von Prittwitz, 2003](https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/27211/vollstaendig-personalisierte-verhaeltniswahl/)). > [!attention]- 2. Es begünstigt Extremisten -> Für den Sieg eines Extremisten reicht bereits die größte Minderheit, ganz egal, wie sehr er sich zum Feind der übrigen Mehrheit gemacht hat. Direktwahlen bei LTWen oder der BTW sehen keine Stichwahl vor, wodurch ein Wahlsieger mit einem gering legitimierenden Stimmenanteil hervorgehen kann, wie bspw. Marek Erfurth von der AfD, der bei der Thüringer LTW 2024 mit nur 26,7% der Stimmen den Wahlkreis Erfurt IV gewann ([thueringen.de, 2024](https://wahlen.thueringen.de/datenbank/wahl1/wahl.asp?wahlart=LW&wJahr=2024&zeigeErg=LAND&auswertung=6&wknr=&gemnr=&terrKrs=&gemteil=000&buchstabe=&Langname=&wahlvorschlag=&sort=&druck=&XLS=&anzahlH=-2&Nicht_existierende=&x_vollbildDatenteil=&optik=&aktual=&ShowLand=&ShowWK=&ShowPart=&SortSpalte=4&Richtung=)), nur 1,3 Prozentpunkte vor der CDU-Kandidatin. Der AfD-Kandidat wäre selbst dann Sieger, wenn die Erfurter Bevölkerung im paarweisen Vergleich jeden anderen Kandidaten vorziehen würde. +> Für den Sieg eines Extremisten reicht bereits die größte Minderheit, ganz egal, wie sehr er sich zum Feind der übrigen Mehrheit gemacht hat. Direktwahlen bei LTWen oder der BTW sehen keine Stichwahl vor, wodurch ein Wahlsieger mit einem gering legitimierenden Stimmenanteil hervorgehen kann, wie bspw. Marek Erfurth von der AfD, der bei der Thüringer LTW 2024 mit nur 26,7% der Stimmen den Wahlkreis Erfurt IV gewann ([thueringen.de, 2024](https://wahlen.thueringen.de/datenbank/wahl1/wahl.asp?wahlart=LW&wJahr=2024&zeigeErg=LAND&auswertung=6&wknr=&gemnr=&terrKrs=&gemteil=000&buchstabe=&Langname=&wahlvorschlag=&sort=&druck=&XLS=&anzahlH=-2&Nicht_existierende=&x_vollbildDatenteil=&optik=&aktual=&ShowLand=&ShowWK=&ShowPart=&SortSpalte=4&Richtung=)), nur 1,3 Prozentpunkte vor der CDU-Kandidatin. Der AfD-Kandidat ist Sieger, obwohl er wahrscheinlich in einer hypothetischen Stichwahl gegen jeden anderen Kandidaten verloren hätte. > -> Weil es für einen Extremisten also bereits genügt, nur die größte Minderheit zu erlangen, ist unerheblich, wie die übrige Wählerschaft zu ihm steht - ob akzeptierend bis stark ablehnend ist nicht relevant. Infolgedessen schadet es dem Kandidaten nicht, wenn er die Wähler der anderen Lager verschreckt. Im Gegenteil: Es ist für den Kandidaten förderlich, wenn er möglichst aus den anderen Kandidaten heraussticht und viel Bühnenfläche erhält. Dies ist eine offene Einladung für Populismus, Polemisierung und Extremismus. Mit diesen Mitteln kann sich der Kandidat in den Vordergrund stellen, ohne etwas zu verlieren. Die Folge ist eine Verstärkung der Polarisierung der Gesellschaft. +> Weil es für einen Extremisten also bereits genügt, nur die größte Minderheit zu erlangen, ist unerheblich, wie die übrige Wählerschaft zu ihm steht - ob akzeptierend oder stark ablehnend, ist nicht relevant. Infolgedessen schadet es dem Kandidaten nicht, wenn er die Wähler der anderen Lager verschreckt. Im Gegenteil: Es ist für den Kandidaten förderlich, wenn er möglichst aus den anderen Kandidaten heraussticht und viel Bühnenfläche erhält. Dies ist eine offene Einladung für Populismus, Polemisierung und Extremismus. Mit diesen Mitteln kann sich der Kandidat in den Vordergrund stellen, ohne etwas zu verlieren. Die Folge ist eine Verstärkung der Polarisierung der Gesellschaft. > > Da sich gemäßigte Kandidaten und Parteien des demokratischen Lagers außerdem gegenseitig die Stimmen wegnehmen (s. u.), fördern sie so den Sieg von Extremisten. Mehr demokratische Kandidaten bedeuten bessere Siegchancen für den Extremisten. +> +> Die Sperrklausel ist für heranwachsende Radikalparteien wohl durchlässiger als für gemäßigte Parteien. Denn wer in der aktuellen Gesellschaft radikal auftritt, hat bessere Chancen, die 5%-Hürde zu überwinden. > [!attention]- 3. Es repräsentiert den Wählerwillen ungenau -> Wenn wir die Erst- und Zweitstimme als getrennte Wahlen betrachten, darf jeder Wähler bei jeder Wahl nur ein einziges Kreuz setzen. Dieses einzelne Kreuz transportiert nur sehr begrenzt viel Information. Insbesondere kann der Wähler mit dem einen Kreuz nicht ausdrücken, welcher Kandidat oder welche Partei ihm am zweitliebsten wäre. Die Folge ist, dass +> Wenn wir die klassische Erst- und Zweitstimme als getrennte Wahlen betrachten, darf jeder Wähler bei jeder Wahl nur ein einziges Kreuz setzen. Dieses einzelne Kreuz transportiert nur sehr begrenzt viel Information. Insbesondere kann der Wähler mit dem einen Kreuz nicht ausdrücken, welcher Kandidat oder welche Partei ihm am zweitliebsten wäre. Die Folge ist, dass > - ...in der Mehrheit unbeliebte Kandidaten gewinnen können (s. bspw. Erfurt IV oben), > - ...Kleinstparteiwähler bei der Sitzverteilung von etablierten Parteien unberücksichtigt bleiben oder Kleinstparteiwähler taktisch wählen (s. u.) und > - ...Wähler von aussichtsschwachen Kandidaten bei den Siegchancen von aussichtsreichen Kandidaten nicht mitbestimmen können (s. OB-Kandidaturen in Darmstadt unten) oder taktisch wählen (s. u.). > -> Im aktuellen System kann es außerdem zur **Mehrheitsumkehr** kommen, also dass ein politisches Lager, das die Mehrheit der Stimmen erhalten hat, nicht die Mehrheit der Mandate erhält, weil ein kleinerer Koalitionspartner an der Hürde scheiterte ([Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=FUAv4sZ5hB4emHES&t=586); [Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)). Das führte bei der Bundestagswahl 2013 zu einer bürgerlich-rechten Mehrheit nach Stimmen, aber einer linken Mehrheit nach Mandaten. +> Im aktuellen System kann es außerdem zur **Mehrheitsumkehr** kommen, also dass ein politisches Lager, das die Mehrheit der Stimmen erhalten hat, nicht die Mehrheit der Mandate erhält, weil ein kleinerer Koalitionspartner an der Hürde scheiterte ([Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=FUAv4sZ5hB4emHES&t=586); [Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)). Das führte bei der Bundestagswahl 2013 zu einer bürgerlich-rechten Mehrheit nach Stimmen, aber einer linken Mehrheit nach Mandaten. Bei der Brandenburger LTW 2024 erreichte die AfD eine Sperrminorität, obwohl 70% der Wähler Mitte oder links gewählt haben. Allerdings scheiterten 14,3% der Stimmen an der Sperrklausel und 13,4% davon gingen an Mitte und links orientierte Parteien. Wären bereits 2% der verlorenen Stimmen berücksichtigt geblieben, hätte die AfD keine Sperrminorität erreicht. Ein solches Szenario könnte sich auch in einer künftigen BTW ereignen. > > Zusammengefasst ist das resultierende Wahlergebnis deutlich ungenauer als es sein sollte. Je treuer die Widerspiegelung des Wählerwillens, desto besser das Wahlsystem. @@ -55,7 +57,7 @@ Nach nun 75-jährigem Bestehen ist Zeit für eine tiefgehende Reform des deutsch > Stichwahlen kosten Geld. Zahlen des Niedersächsischen Innenministeriums ([niedersachsen.de, 2013](https://www.mi.niedersachsen.de/aktuelles/presse_informationen/kosten-fuer-die-stichwahlen-der-kommunalen-hauptverwaltungsbeamten-119393.html)) legen nahe, dass die Durchführungskosten einer Stichwahl inflationsbereinigt bei rund 87ct pro Einwohner liegen. Eine Stadt wie Frankfurt muss also rund 650.000 Euro aufwenden, um eine OB-Stichwahl durchzuführen. Unter der Annahme, dass rund die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland alle vier Jahre nicht nur einen (Ober-)Bürgermeister, sondern auch einen Landrat wählt, kommen so rund 110 Mio. Euro zusammen, die im Schnitt alle vier bis fünf Jahre für Stichwahlen ausgegeben werden. Ein kosteneffizientes Wahlsystem würde den Stichwahlgang in den ersten Wahlgang integrieren, ohne dabei die Ausdrucksfähigkeit der Bürger zu beschränken. > [!attention]- 5. Es fördert taktisches Wahlverhalten -> Wähler von kleinen Parteien oder aussichtsschwachen Kandidaten sehen sich dem Risiko ausgesetzt, ihre Stimme zu vergeuden: Bei kleinen Parteien könnte die Stimme durch die 5%-Hürde unwirksam werden und bei der Wahl eines aussichtsschwachen OB-Kandidaten würde der Wähler seine Möglichkeit aufgeben, bei den aussichtsreichen Kandidaten mitzubestimmen. Beides führt zu einem Dilemma, was den Wähler dazu veranlasst, seine Stimme einer Option zu geben, die nicht seiner Erstpräferenz entspricht. Dies führt nicht nur zu einem verfälschten Wahlergebnis, +> Wähler von kleinen Parteien oder aussichtsschwachen Kandidaten sehen sich dem Risiko ausgesetzt, ihre Stimme zu vergeuden: Bei kleinen Parteien könnte die Stimme durch die 5%-Hürde unwirksam werden und bei der Wahl eines aussichtsschwachen OB-Kandidaten würde der Wähler seine Möglichkeit aufgeben, bei den aussichtsreichen Kandidaten mitzubestimmen. Beides führt zu einem Dilemma, was den Wähler dazu veranlasst, seine Stimme einer Option zu geben, die nicht seiner Erstpräferenz entspricht. Dies führt zu einem verfälschten Wahlergebnis und somit zu einer verschobenen Parteienfinanzierung. > > Ein gutes Wahlsystem würde es dem Wähler gestatten, risikofrei seine Erstpräferenz zu wählen. @@ -82,9 +84,9 @@ Nach nun 75-jährigem Bestehen ist Zeit für eine tiefgehende Reform des deutsch > Ein gutes Wahlsystem soll auch bei einer breit verteilten Stimmenverteilung einen stark legitimierten Wahlsieger finden können. > [!attention]- 10. Es verwirrt die Wähler -> Umfragen zufolge können im aktuellen Wahlsystem nur 28% der deutschen Wahlberechtigten Erst- und Zweitstimme richtig zuordnen ([pollytix](https://pollytix.de/pollytix-umfrage-offenbart-wissensluecken-zum-wahlsystem/)). In einer Tiefenbefragung ([KAS, 2019](https://www.kas.de/de/kurzum/detail/-/content/denn-sie-wissen-nicht-was-sie-tun)) schätzten die meisten Befragten die Erststimme als die wichtigere ein. Dies rührt von den Bezeichnungen "Erststimme" und "Zweitstimme", die eine Rangfolge suggeriert. +> Umfragen zufolge können im aktuellen Wahlsystem nur 28% der deutschen Wahlberechtigten Erst- und Zweitstimme richtig zuordnen ([pollytix](https://pollytix.de/pollytix-umfrage-offenbart-wissensluecken-zum-wahlsystem/)). Laut einer Tiefenbefragung ([KAS, 2019](https://www.kas.de/de/kurzum/detail/-/content/denn-sie-wissen-nicht-was-sie-tun)) liegt der Hauptgrund an der wenig informativen sowie irreführenden Benennung der beiden Stimmen: Demzufolge schätzten die meisten Befragten die Erststimme als die wichtigere ein, weil die Namen eine Rangfolge suggerieren. > -> In einem guten Wahlsystem sollen Wähler ihren Willen bestmöglich zu Papier bringen können, ohne durch irreführende Bezeichnungen getäuscht zu werden. +> In einem guten Wahlsystem sollen Wähler ihren Willen bestmöglich auf Papier bringen können, ohne durch irreführende Bezeichnungen getäuscht zu werden. ## Terminologie ### Was ist die Ersatzstimme? Eine *Ersatzstimme* ist eine zusätzliche Stimme, mit der der Wähler eine zweite Präferenz angeben kann. Die Ersatzstimme (auch Alternativstimme oder Eventualstimme) genannt, zählt nur dann, wenn die eigentliche Stimme (die *Hauptstimme*) wirkungslos war, etwa wegen der 5%-Hürde. @@ -124,11 +126,11 @@ Diese Variante ist wahrscheinlich nicht ohne Anpassung des Grundgesetzes möglic > Die Ersatzstimme mildert außerdem das Risiko einer Mehrheitsumkehr ([Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=FUAv4sZ5hB4emHES&t=586); [Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)). > [!check]- 3. Weniger Extremismus und Polarisierung -> Jeder Kandidat muss nicht nur um Hauptstimmen, sondern auch um Ersatzstimmen werben. Dies gelingt nur, indem er sich in die Gunst der Wähler der anderen Lager begibt. Negative Campaigning, Hardlinertum oder Polarisierung werden kontraproduktiv, weil der Kandidat so die Wähler anderer Lager verschrecken würde. Der Kandidat wird also zu einem gemäßigteren Umgang und zu einer differenzierteren Debatte angereizt. Dieser Effekt würde bei Mehrheitswahlen besonders stark sein, da es bei der Mehrheitswahl nur einen Sieger geben kann. 2013 konnte dieser Effekt bei der Bürgermeisterwahl in Minneapolis besonders gut beobachtet werden ([Veritasium, 2024](https://www.youtube.com/watch?v=qf7ws2DF-zk&t=330s)): Trotz der schieren Zahl an 35 Bürgermeisterkandidaten verlief der Wahlkampf äußerst harmonisch und konstruktiv, weil sich die Kandidaten aufgrund des Anreizes der Ersatzstimmenwerbung nicht anfeindeten. In einem System ohne Ersatzstimmen wäre Polarisierung und Populismus eine vermutlich erfolgreiche Strategie gewesen. +> Jeder Kandidat muss nicht nur um Hauptstimmen, sondern auch um Ersatzstimmen werben. Dies gelingt nur, indem er sich in die Gunst der Wähler der anderen Lager begibt. Negative Campaigning, Hardlinertum oder Polarisierung werden kontraproduktiv, weil der Kandidat so die Wähler anderer Lager verschrecken würde. Der Kandidat wird also zu einem gemäßigteren Umgang und zu einer differenzierteren Debatte angeregt. Dieser Effekt würde bei Mehrheitswahlen besonders stark sein, da es bei der Mehrheitswahl nur einen Sieger geben kann. 2013 konnte dieser Effekt bei der Bürgermeisterwahl in Minneapolis besonders gut beobachtet werden ([Veritasium, 2024](https://www.youtube.com/watch?v=qf7ws2DF-zk&t=330s)): Trotz der schieren Zahl an 35 Bürgermeisterkandidaten verlief der Wahlkampf äußerst harmonisch und konstruktiv, weil sich die Kandidaten aufgrund des Anreizes der Ersatzstimmenwerbung nicht anfeindeten. In einem System ohne Ersatzstimmen wäre Polarisierung und Populismus eine vermutlich erfolgreiche Strategie gewesen. > > Gewinnen wird der Kandidat mit dem meisten [[Rückhalt]]. Das ist der Kandidat, der für die meisten Wähler der Lieblingskandidat oder ein Kompromisskandidat ist, was in der Regel seltener ein Extremkandidat am Rande des politischen Spektrums ist. Im Gegensatz dazu bieten gemäßigte Kandidaten mehr Potenzial für Konsens, wodurch sie mehr Ersatzstimmen erhalten. Im Ergebnis bringt ein Ersatzstimmensystem seltener Extremisten als Wahlsieger hervor ([Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=FUAv4sZ5hB4emHES&t=586)). Dies ist keine Bevorzugung von Mitte-Kandidaten in dem Sinne, dass sie einen unfairen Vorteil erhielten, sondern weil dies dem Wählerwillen besser entspricht. > -> Auch weil sich Wahlbewerber der gemäßigten, demokratischen Lager weniger gegenseitig die Stimmen rauben, sind ihre Siegchancen gegenüber Extremisten nicht künstlich verringert. +> Außerdem würden sich im Ersatzstimmensystem die Wahlbewerber der gemäßigten, demokratischen Lager weniger stark die Stimmen rauben, weil die Ersatzstimme die Übertragung der Wählerstimme von einem gemäßigten Kandidaten auf einen anderen gemäßigten ermöglicht. > [!check]- 4. Reduktion von taktischem Wahlverhalten > Die Ersatzstimme kompensiert den Verlust der Hauptstimme. So kann der Wähler mit der Hauptstimme seine tatsächliche Erstpräferenz wählen, ohne ein Risiko einzugehen, da die Stimme im Fall des Verlusts der Hauptstimme Dank der Ersatzstimme nicht verloren ist. Die Ersatzstimme schafft den psychologischen Druck der 5%-Hürde ab ([Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)). Taktisches Wahlverhalten wird von der Haupt- auf die Ersatzstimme verlagert. Die Ersatzstimme vermindert außerdem den Spoiler-Effekt, bei welchem der Wähler durch die Wahl eines aussichtsschwachen Kandidaten den Sieg seines zweitliebsten, aber aussichtsreichen Kandidaten ungewollt verhindert. @@ -150,7 +152,7 @@ Diese Variante ist wahrscheinlich nicht ohne Anpassung des Grundgesetzes möglic > Die Ersatzstimme fungiert gedanklich wie ein zweiter Wahlgang. Gesonderte Stichwahlen werden dadurch überflüssig, wodurch ein zweiter Wahlgang, Wahlkampf und Wahldurchführungskosten gespart werden, ohne den Wähler in der Mitteilung seines Wählerwillens einzuschränken ([Benken, 2023](https://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/pdf/2024/Folien-Benken-Wahlrechtstagung-2023-Bestensee-v1a.pdf)). > [!check]- 9. Geringere Eintrittsschwelle für Newcomer -> Selbst mit unveränderter Sperrklausel steigt die Wahrscheinlichkeit für den Erfolg neuer Wahlbewerber, weil sie deutlich weniger unter taktischem Wahlverhalten leiden. +> Selbst mit unveränderter Sperrklausel steigt die Wahrscheinlichkeit für den Erfolg neuer Wahlbewerber, weil sie deutlich weniger unter taktischem Wahlverhalten leiden. So könnten sich bspw. neue, gemäßigte Parteien etablieren, die eine bessere Alternative zu den großen bzw. Regierungsparteien sind im Gegensatz zur AfD und zum BSW. > [!check]- 10. Unverfälschte Stimmenstatistik > Die Verteilung der Hauptstimmen spiegelt die tatsächliche Favorisierung der Wähler wider und würde so eine Statistik liefern, die akkurater ist als jede andere bisher zur Verfügung stehende Statistik der Wählergunst ([Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)). Dadurch eignet sich die Verteilung der Hauptstimmen besonders als Grundlage für die Ermittlung der Zuschüsse für die Parteien. @@ -161,7 +163,9 @@ Diese Variante ist wahrscheinlich nicht ohne Anpassung des Grundgesetzes möglic Einige der Schwächen können mit [[Ergänzendes|ergänzenden Maßnahmen]] abgemildert werden. > [!failure]- 1. Erhöhte Komplexität -> Das System der Ersatzstimme ist offensichtlich komplizierter als das bisherige System.. Die zusätzliche Stimme könnte manche Wähler möglicherweise überfordern. Mit der Umbenennung von "Erststimme" in "Wahlkreisstimme" und "Zweitstimme" in "Listenstimme" wird zumindest die suggerierte, aber irreführende Rangfolge ("Erst-" vs. "Zweit-") vermieden, wodurch eine wichtige Fehlerquelle ([KAS, 2019](https://www.kas.de/de/kurzum/detail/-/content/denn-sie-wissen-nicht-was-sie-tun)) behoben wird. +> Das System der Ersatzstimme ist offensichtlich komplizierter als das bisherige System.. Die zusätzliche Stimme könnte manche Wähler möglicherweise überfordern. Die deutlich komplexeren Kommunalwahlsysteme in Hessen und Bayern machen allerdings bereits vor, dass die Wähler selbst mit solch besonders schwierigen Systemen umgehen können. +> +> Mit der Umbenennung von "Erststimme" in "Wahlkreisstimme" und "Zweitstimme" in "Listenstimme" wird zumindest die suggerierte, aber irreführende Rangfolge ("Erst-" vs. "Zweit-") vermieden, wodurch eine wichtige Fehlerquelle ([KAS, 2019](https://www.kas.de/de/kurzum/detail/-/content/denn-sie-wissen-nicht-was-sie-tun)) behoben wird. > > Bei der Ersatzstimme ist sich die Literatur uneinig, ob die Komplexitätszunahme die Schwelle zur fehlenden "Normenklarheit" überschreitet ([Wiss. Dienst d. BT, 2022](https://www.bundestag.de/resource/blob/916908/b6b6d93b8c360555df03d65038f7c630/WD-3-117-22-pdf.pdf)). @@ -309,3 +313,4 @@ Siehe [[Ergänzendes]]. - [Gesetzesvorschlag zur Einführung der Ersatzstimme ins BWahlG](http://bwahlg.de/) - [RankedVote: Online-Präferenzwahltool](https://www.rankedvote.co/) - [RCVis: Visualisierungstool für Präferenzwahlen](https://www.rcvis.com/ ) +- [[Hessen|Die Ersatzstimme in Hessen]]