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-# Quartz v4
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-> “[One] who works with the door open gets all kinds of interruptions, but [they] also occasionally gets clues as to what the world is and what might be important.” — Richard Hamming
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+# 🗳️ Ersatzstimme-Wiki
+Dieses Wiki bündelt alle wichtigen Infos rund um das Wahlsystem der Ersatzstimme, zusammengestellt von [Mark Rothermel](https://rothermel.me).
+### [👉🏻 Hier geht's zum Wiki](https://ersatzstimme.wiki)
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+Wendet für seine Parlamentswahlen das System der [[Übertragbare Einzelstimmgebung|Übertragbaren Einzelstimmgebung]] an.
+
+In Australien herrscht Wahlpflicht. Jeder Wähler muss sämtliche Parteien auf dem Zettel durchnummerieren
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+In England wurde von 2000 bis 2022 die Ersatzstimme (Supplementary Vote) eingesetzt ([Electoral Reform Society](https://www.electoral-reform.org.uk/voting-systems/types-of-voting-system/supplementary-vote/); [UK Parliament](https://www.parliament.uk/about/how/elections-and-voting/voting-systems/)), u. a. für die Wahl des 2000 eingeführten Bürgermeisteramtes ([Wikipedia](https://en.wikipedia.org/wiki/Directly_elected_mayors_in_England#Legislative_changes)). Dabei wurde ein nur einstufiges Aggregationsverfahren angewendet, bei welchem direkt alle außer die Top-2-Kandidaten eliminiert wurden.
+
+2022 ersetzte der Home Secretary der Conservative Party landesweit die Ersatzstimme durch die einfache Mehrheitswahl. Er begründete dies mit der Londoner Bürgermeisterwahl 2021, bei der die Zahl der ungültigen Stimmen mit 5% einen Rekord erreichte ([BBC, 2021](https://www.bbc.com/news/uk-england-london-57049779)). Schuld daran war allerdings ein ungünstig designter Stimmzettel ([Wikipedia](https://en.wikipedia.org/wiki/Contingent_vote#Supplementary_vote)), dessen Layout dazu führte, dass Wähler irrtümlich zwei Hauptstimmen abgaben:
+![[Screenshot-2021-05-12-at-14.07.04.png]]
+Weil die Kandidaten auf zwei Spalten aufgeteilt wurden, lagen *vier* Stimmenspalten vor, was offenbar einige Wähler dazu verleitete, zwei Hauptstimmen und zwei Ersatzstimmen (eine Stimme pro Spalte) anzugeben. Auch bringen Kritiker an, die Abschaffung der Ersatzstimme nütze der Conservative Party.
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+Seit 2000 implementieren zunehmend mehr Regionen und Städte die Präferenzwahl in ihre Wahlverfahren. Aktuell sind es rund 50 ([FairVote](https://fairvote.org/our-reforms/ranked-choice-voting-information/#where-is-ranked-choice-voting-used)), darunter San Francisco (seit 2002), Minneapolis (seit 2006), Maine (seit 2016), NYC (seit 2021) und Alaska (seit 2022).
+Exit Surveys fanden:
+* dass eine überwältigende Mehrheit (86%) der Wähler die Präferenzwahl verstanden hat, vgl. nur 28% der Deutschen können Erst- und Zweitstimme korrekt zuordnen ([pollytix](https://pollytix.de/pollytix-umfrage-offenbart-wissensluecken-zum-wahlsystem/))
+* dass die Wähler sie einfach fanden (95% in NYC, [Beispiel-Wahlzettel](https://www.nycvotes.org/media/qqbjfttc/sample-ballot-en.pdf))
+* dass die Mehrheit der Wähler (75%) Gebrauch von den Nebenstimmen macht ([New America](https://www.newamerica.org/political-reform/reports/what-we-know-about-ranked-choice-voting/the-voting-experience/))
+* und dass sie die Präferenzwahl in künftigen Wahlen gutheißen würden (56 bis 82%) ([FairVote](https://fairvote.org/report/exit-surveys-report-2024/)).
+Beobachtungen zufolge beeinflusst die Präferenzwahl die Wahlbeteiligung, wenn, dann positiv ([FairVote](https://fairvote.org/ranked-choice-voting-and-voter-turnout/)).
+
+Die Fehlerrate abgegebener Präferenzwahl-Stimmzettel ist zwar gestiegen, aber insgesamt weiterhin gering ([Institute for Mathematics and Democracy, 2024](https://mathematics-democracy-institute.org/deficiencies-in-recent-research-on-ranked-choice-voting-ballot-error-rates/)), bspw. 2005 nur 0,4% in San Francisco ([New America Foundation & FairVote, 2008](https://archive.fairvote.org/media/irv/irvracememo.pdf)). Die meisten fehlerhaften Stimmzettel können allerdings dennoch berücksichtigt werden, weil sie deutlich den Wählerwillen erkennen lassen.
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-###### Mark Rothermel - 04.08.2024 - Version 2
-Dieses Dossier bündelt wichtige Informationen und Quellen, die im Kontext der Einführung der Ersatzstimme für öffentliche Wahlen in Deutschland relevant sind.
-## Zusammenfassung
-Das aktuelle deutsche Wahlsystem leidet unter mehreren Schwächen. Durch die 5%-Hürde gehen regelmäßig große Mengen Stimmen verloren (rund 4 Mio bei der BTW 2021 und 22,3% bei der LTW im Saarland 2022). Der Stimmenverlust beeinträchtigt die Erfolgswertgleichheit der Stimmen und schwächt die Legitimität des Wahlergebnisses. Außerdem ruft das System Wählerdilemmas hervor, die zum taktischen Wahlverhalten zwingen, besonders bei Mehrheitswahlen.
-
-Eine in der Wissenschaft vielfach diskutierte und empfohlene ([Decker, 2016](https://www.jstor.org/stable/43977129); [Jesse, 2016](https://www.jstor.org/stable/26428892)), jedoch in der Politik bisher begrenzt beleuchtete Lösung ist die Einführung der **Ersatzstimme**. Die Ersatzstimme ist eine freiwillige zweite Stimme, mit der der Wähler eine zweite Präferenz angeben kann, die dann zählt, wenn seine eigentliche Stimme, die sogenannte “Hauptstimme”, unwirksam geworden ist, bspw. aufgrund einer Sperrklausel oder weil der Kandidat keine Mehrheit erhalten hat. Die Ersatzstimme fungiert virtuell wie ein zweiter Wahlgang. Sie mildert nicht nur die o.g. negativen Effekte von Sperrklauseln deutlich ([Dilger, 2021](https://www.wiwi.uni-muenster.de/io/de/forschen/downloads/DP-IO_07_2021); [BVerfG Leitsatz, 2017](https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/09/cs20170919_2bvc004614.html); [Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=FUAv4sZ5hB4emHES&t=586)), sondern bringt zahlreiche weitere Vorteile mit sich. Dazu zählen eine erhöhte Partizipativität (Ausdrucksfähigkeit des Wählerwillens, [Hellmann, 2016](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2016-2-389/weg-vom-pfadabhaengigkeitsproblem-praeferenzwahl-in-mehrpersonenwahlkreisen-als-reformoption-des-bundeswahlrechts-jahrgang-47-2016-heft-2?page=1)), Depolarisierung, Integrierung der Stichwahl in einen einzigen Wahlgang, höhere Wahlbeteiligung, u.a.
-
-Allerdings ist die Wahl mit Ersatzstimme komplizierter als die Wahl mit einer Stimme, was die Anzahl ungültiger Stimmen steigern kann. Zudem erfordert die Auszählung mehr Aufwand und die Ergebnisse sind schwieriger nachzuvollziehen. Es besteht auch die Möglichkeit, dass mehr kleine Parteien die 5%-Hürde schaffen könnten, da Wähler aufgrund des beseitigten Verlustrisikos der Hauptstimme eher dazu bereit sind, sie zu wählen. Dies könnte zu mehr Parteien in Koalitionen führen. Außerdem ist das Konzept der Ersatzstimme relativ unbekannt, weshalb eine Umgewöhnung der Bevölkerung nötig werde. Während bisherige Gutachten die Verfassungsmäßigkeit der Ersatzstimme nicht abschließend bestimmten, betrachtet die rechtswissenschaftliche Literatur die Ersatzstimme "vielfach als verfassungskonform" ([Wiss. Dienst d. BT, 2022](https://www.bundestag.de/resource/blob/916908/b6b6d93b8c360555df03d65038f7c630/WD-3-117-22-pdf.pdf)). Zwar könnten die Grundsätze der Unmittelbarkeit sowie der Gleichheit der Wahl berührt sein, was sich jedoch ggf. mit der Milderung der Sperrklauseleffekte rechtfertigen ließe. Das BVerfG sah 2017 keine Pflicht des Gesetzgebers, die Ersatzstimme einzuführen ([BVerfG Leitsatz, 2017](https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/09/cs20170919_2bvc004614.html)). Das neuliche Urteil des BVerfG zur Wahlrechtsreform der Ampel ([BVerfG-Pressemitteilung, 2024](https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2024/bvg24-064.html)) hielt fest, dass die 5%-Sperrklausel in ihrer reinen Form (ohne Grundmandatsklausel) zu stark in die Wahlgleichheit eingreifen würde. Das BVerfG ruft explizit zur Reform der Sperrklausel auf.
-
-In Deutschland sind aktuell keine öffentlichen Wahlen mit Ersatzstimme implementiert. Initiativen zur Einführung wurden 2012 in Schleswig-Holstein sowie 2015 im Saarland, in beiden Fällen von den Piraten, unternommen, fanden jedoch keine Mehrheit. 2022 wurde die Ersatzstimme im Rahmen der Bundestagswahlreform als Lösung zur Vermeidung verwaister Wahlkreise diskutiert, jedoch nicht umgesetzt.
-
-Die Ersatzstimme ist der einfachste Spezialfall der sogenannten Präferenzwahl, bei der es zusätzlich zur Ersatzstimme beliebig weitere Nebenstimmen gibt, die wie eine Rangfolge fungieren. Obwohl die Präferenzwahl komplizierter ist als die Ersatzstimme, wurden seit 2000 in den USA rund 50 Regionen und Städten die Präferenzwahl implementiert ([FairVote](https://fairvote.org/our-reforms/ranked-choice-voting-information/#where-is-ranked-choice-voting-used)). Umfragen zeigen, dass Wähler das System gut verstehen und bevorzugen. In Ländern wie Irland, Australien und Malta wird die Präferenzwahl seit einem Jahrhundert in spezieller Form für Parlamentswahlen genutzt.
-
-Die positiven Effekte, die Empfehlungen aus der Wissenschaft und die internationalen Erfahrungen sprechen dafür, dass die Ersatzstimme eine vielversprechende Reformoption für Deutschland sein könnte.
-## Kernforderung
-Einführung der Ersatzstimme für alle öffentlichen Wahlen in Deutschland mit mehrstufigem Aggregationsverfahren der "Integrierten Stichwahl".
-## Musterstimmzettel
-Die Bundestagswahl 2021 hätte mit Ersatzstimme auf dem Stimmzettel so aussehen können (hier "Wahlkreisstimme" statt "Erststimme" und "Listenstimme" statt "Zweitstimme", um mögliche Verwechslungen zu vermeiden).
-![[Musterstimmzettel Ersatzstimme.png]]
-## Definitionen
-### Ersatzstimme
-Von Wikipedia: "Die **Ersatzstimme**, auch Alternativstimme, Eventualstimme, Hilfsstimme, Nebenstimme oder Zweitpräferenz, bezeichnet im Wahlrecht eine zusätzliche Stimme des Wählers, mit welcher dieser neben seiner ersten auch seine zweite Präferenz angeben kann. Sie kann nur wirken, wenn die erste Präferenz nicht wirkt; deshalb bleibt die [Wahlgleichheit](https://de.wikipedia.org/wiki/Wahlgleichheit "Wahlgleichheit") erhalten." ([Wikipedia](https://de.wikipedia.org/wiki/Ersatzstimme_(Wahlrecht)))
-Die Stimme für die erste Präferenz wird auch als **Hauptstimme** bezeichnet. Mit "Ersatzstimme" ist je nach Kontext die Wählerstimme oder das Wahlsystem gemeint. Das System der Ersatzstimme ist der einfachste Spezialfall der Präferenzwahl.
-### Präferenzwahl
-"Eine **Präferenzwahl,** Rangfolgewahl, Präferenzstimmgebung oder Vorzugswahl (engl. *Ranked Choice Voting, RCV*) ist ein Wahlverfahren, bei welchem Wähler nicht nur _einen_ Kandidaten (oder sonst eine Option) angeben können, sondern eine Rangfolge gemäß ihrer Vorliebe." ([Wikipedia](https://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4ferenzwahl)) Eine nachrangige Präferenz kann nur wirken, wenn alle vorrangigen nicht wirken (etwa wegen einer Sperrklausel).
-Die Präferenzwahl kann sowohl bei Verhältnis- als auch bei Mehrheitswahlen angewendet werden. Sperrklauseln können bestehen bleiben. Die Stimmen nachrangiger Präferenzen werden auch als Nebenstimmen bezeichnet. Das System der Ersatzstimme hat nur eine Nebenstimme.
-Stimmzettelbeispiele der Präferenzwahl:
-
-| Ankreuzen | Auflistung | Nummerierung |
-| ----------------------- | ------------------------ | ------------------------------------- |
-| ![[Rankballotoval.gif]] | ![[Rankballotname2.gif]] | ![[Preferential_ballot.svg.png\|220]] |
-### Aggregationsverfahren: Integrierte Stichwahl
-Es gibt mehrere Möglichkeiten, die abgegebenen Stimmen in die Verteilung der Mandate zu übersetzen. Diese Verfahren werden als Aggregationsverfahren (oder Auszählungsverfahren) bezeichnet. Je nach verwendetem Aggregationsverfahren kann ein anderes Resultat entstehen.
-Dieses Dossier beleuchtet das Aggregationsverfahren der **[Integrierten Stichwahl](https://de.wikipedia.org/wiki/Integrierte_Stichwahl)** (engl. *Instant-Runoff Voting*, s. auch [Dilger (2021)](https://www.wiwi.uni-muenster.de/io/de/forschen/downloads/DP-IO_07_2021) ). Bei diesem iterativen Verfahren werden im ersten Schritt nur die Hauptstimmen auf alle Optionen verteilt. Hat (im Falle einer Mehrheitswahl) kein Kandidat die nötige Mehrheit oder unterliegt (im Falle einer Verhältniswahl) eine Option einer Sperrklausel, so wird die Option mit den wenigsten Hauptstimmen eliminiert und ihre Stimmen gemäß der Ersatzstimmen auf die übrigen Optionen übertragen. Dieser Schritt der Eliminierung wird solange mit der jeweils stimmschwächsten Option wiederholt bis (im Fall der Mehrheitswahl) ein Sieger feststeht bzw. (im Fall der Verhältniswahl) keine Option mehr einer Sperrklausel unterliegt.
-#### Spezialfall Einstufige Übertragung
-Oben wurde die mehrstufige Aggregation beschrieben. Bei einer Verhältniswahl kann die Aggregation stattdessen einstufig erfolgen, indem sofort alle Optionen unterhalb der Sperrklausel eliminiert werden. Dieses Verfahren hat die Vorteile, dass es einfacher ist und die paradoxe Spezialsituation vermeidet, in der es Vorteilhaft sein kann, eine verhasste Option zu wählen.
-### Übersicht Präferenzwahlsysteme bei Mehrheitswahl
-
-| | Ein Gewinner | Mehrere Gewinner |
-| ------------------------ | --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- | -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- |
-| **Eine Nebenstimme** | **Ersatzstimme**
*[Supplementary Vote (SV)](https://en.wikipedia.org/wiki/Contingent_vote#Supplementary_vote)*
| - |
-| **Mehrere Nebenstimmen** | **Integrierte Stichwahl**
*[Instant-Runoff Voting (IRV)](https://en.wikipedia.org/wiki/Instant-runoff_voting)* (bei mehrstufiger Aggregation)
*[Contingent Vote (CV)](https://en.wikipedia.org/wiki/Contingent_vote)* (bei einstufiger Aggregation) | **Übertragbare Einzelstimmgebung**
*[Single Transferable Vote (STV)](https://en.wikipedia.org/wiki/Single_transferable_vote)* |
-## Vorteile der Ersatzstimme
-1. **Weniger unberücksichtigte Stimmen** ([Dilger, 2021](https://www.wiwi.uni-muenster.de/io/de/forschen/downloads/DP-IO_07_2021); [Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)): Sperrklauseln, wie die 5%-Hürde, führen zu unwirksamen Stimmen. So wurden bei der Bundestagswahl 2021 rund 4 Mio. bzw. 8,6% der Stimmen nicht berücksichtigt, bei der Landtagswahl 2022 im Saarland sogar 22,3%. Mit einer Ersatzstimme wird es von vorneherein unwahrscheinlicher, dass der Wähler seine Stimme komplett verliert. Eine Studie ([Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)) mit knapp 900 Wählern zeigte sogar, dass der Wähler explizit die Ersatzstimme dafür einsetzt, um berücksichtigt zu bleiben, indem er die Stimme einer etablierten Partei gibt. Die Zahl unberücksichtigter Stimmen hat sich seit den 70er Jahren im Mittel deutlich erhöht: ![[Pasted image 20240805000147.png]]
- Grafik entnommen von [wahlreform.de](https://www.wahlreform.de/unberuecksichtigt.pdf).
-2. **Bessere Erfolgswertgleichheit**: Der Stimmenwegfall durch die 5%-Hürde ist ein Eingriff in den Grundsatz der Wahlgleichheit. Ersatzstimmen würden diesen Eingriff vermindern ([BVerfG Leitsatz, 2017](https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/09/cs20170919_2bvc004614.html)), weil mehr Stimmen berücksichtigt werden. Dadurch wird die **Gleichheit des [Erfolgswerts](https://de.wikipedia.org/wiki/Erfolgswert)** der Stimmabgabe verbessert. Wähler haben also ähnlichere Chancen, die Zusammensetzung des Gremiums zu beeinflussen, als im jetzigen System.
-3. **Erhöhte Partizipativität**: Wähler können mithilfe der Ersatzstimme ihren Wählerwillens präziser ausdrücken ([Hellmann, 2016](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2016-2-389/weg-vom-pfadabhaengigkeitsproblem-praeferenzwahl-in-mehrpersonenwahlkreisen-als-reformoption-des-bundeswahlrechts-jahrgang-47-2016-heft-2?page=1)). Haupt- und Ersatzstimme transportieren gemeinsam mehr Information als eine einzelne Stimme. Infolge der erhöhten Ausdrucksfähigkeit spiegelt das Gesamtwahlergebnis den Willen der Wähler besser wider. [TODO: Effekt besonders groß, wenn die Zahl der Optionen groß.]
-4. **Reduktion taktischen Wahlverhaltens** ([Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)): Taktisches Wählen tritt dann auf, wenn der Wähler die Stimme einer Option vergibt, die nicht seiner Erstpräferenz entspricht. Das ist besonders dann der Fall, wenn der Wähler seine Stimme von Verlust bedroht sieht, wie es bei Kleinparteien im Kontext der der 5%-Hürde oder bei eher aussichtslosen Kandidaten der Fall ist. Die Ersatzstimme kompensiert den Verlust der Hauptstimme. So kann der Wähler mit der Hauptstimme seine tatsächliche Erstpräferenz wählen, ohne ein Risiko einzugehen, da die Stimme im Fall des Verlusts der Hauptstimme Dank der Ersatzstimme nicht verloren ist. Die Ersatzstimme schafft den psychologischen Druck der 5%-Hürde ab. Taktisches Wahlverhalten wird von der Haupt- auf die Ersatzstimme verlagert, wodurch das Wahlergebnis weniger durch taktische Stimmabgabe verzerrt wird. Die Verteilung der Hauptstimmen spiegelt die tatsächliche Wählerpräferenz wider ([Decker, 2016](https://www.jstor.org/stable/43977129)) und ist so für die Parteienfinanzierung deutlich besser geeignet als im Fall ohne die Ersatzstimme. Die Ersatzstimme vermindert außerdem den **Spoiler-Effekt** ([Veritasium, 2024](https://www.youtube.com/watch?v=qf7ws2DF-zk&t=330s)), bei welchem der Wähler durch die Wahl eines aussichtsschwachen Kandidaten den Sieg seines zweitliebsten, aber aussichtsreichen Kandidaten ungewollt verhindert.
-5. **Reduktion von taktischem Kandidaturverzicht**: Im jetzigen Wahlsystem würden sich ähnliche Kandidaten gegenseitig die Stimmen rauben und so dafür sorgen, dass sie am Ende beide erfolglos sind. Bei Parteien "bedeutet jeder Wahlantritt einer Unter-5-Prozent-Partei, dass sie dem politischen Lager, in dem diese Partei beheimatet ist, Stimmen wegnimmt und "vernichtet"." ([Institut für Wahlrechtsreform](http://www.dualwahl.de/)) Taktisch ist es daher klüger, wenn nur einer von beiden Kandidaten antritt. Durch diesen Anreiz wird die Anzahl der Wahloptionen künstlich gesenkt. Mit einer Ersatzstimme können ähnlich profilierte Kandidaten antreten, ohne gegenseitig die Erfolgsaussichten zu sehr zu verschlechtern.
-6. **Bessere Akzeptanz von Wahlsiegern**: Gewinnen würde bei einer Mehrheitswahl mit Ersatzstimme fortan nicht mehr der Kandidat mit einer einfachen Mehrheit der Hauptstimmen, sondern der Kandidat mit dem meisten *Rückhalt* (die Summe aus seinen Hauptstimmen und den Ersatzstimmen von eliminierten Kandidaten). Dies ist der Kandidat, der für die meisten Wähler der Lieblingskandidat oder ein Kompromisskandidat ist, was in der Regel seltener ein Extremkandidat am Rande des politischen Spektrums ist. Es würde also nicht mehr genügen, bloß die größte Minderheit für sich zu gewinnen, sondern der Kandidat müsste auch als echte Alternative für eine hinreichende Menge an Wählern in Frage kommen. Folglich ist zu erwarten, dass das System Sieger hervorbringen würden, die im Mittel besser akzeptiert sind und das Repräsentationsgefühl der Bürger steigern ([Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)).
- Letzte BTW nur 1 absoluter Gewinner. Durchschnitt 33%. In Dresden 18,6% letzte BTW: https://www.bundeswahlleiterin.de/dam/jcr/712b8bc4-cfa5-4156-ac0d-9a5c79d788bb/w-btw21_arbtab3.pdf
-7. **Bessere Legitimation von Wahlsiegern**: Weil auch in absoluten Zahlen mehr Stimmen im Gesamtergebnis Berücksichtigung finden werden, ergibt sich eine verbesserte Legitimation ([Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=FUAv4sZ5hB4emHES&t=586)). Wegen der erhöhten Partizipativität (s.o.) und der reduzierten taktischen Stimmabgabe lässt sich der Wählerwille in ein akkurateres Wahlergebnis überführen, wodurch Wahlsieger ebenfalls besser legitimiert sind als im herkömmlichen System.
-8. **Integrierung von Stichwahlen**: Die Ersatzstimme fungiert gedanklich wie ein zweiter Wahlgang. Gesonderte Stichwahlen werden dadurch überflüssig, wodurch ein zweiter Wahlgang, Wahlkampf und Wahldurchführungskosten gespart werden, ohne den Wähler in der Mitteilung seines Wählerwillens einzuschränken ([Benken, 2023](https://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/pdf/2024/Folien-Benken-Wahlrechtstagung-2023-Bestensee-v1a.pdf)). Weil die Wähler ihre Stichwahlstimme bereits im ersten Wahlgang mithilfe der Ersatzstimme abgeben können und nicht extra ein zweites Mal wählen gehen müssen, wird so ein Ergebnis mit geringer Wahlbeteiligung vermieden ([Kimball, 2016](https://www.umsl.edu/~kimballd/KimballRCV.pdf)). Gewinnen wird die Person mit dem meisten Rückhalt: Das kann auch die sein, die gemäß Hauptstimmenverteilung auf Platz 3 oder 4 landete, bei einer klassischen Stichwahl also ausgeschieden wäre.
-9. **Depolarisierung**: Jeder Kandidat muss nicht nur um Hauptstimmen, sondern auch um Ersatzstimmen werben. Dies gelingt nur, indem er sich in die Gunst der Wähler der anderen Lager begibt. Negative Campaigning, Hardlinertum oder Polarisierung werden kontraproduktiv, weil der Kandidat so die Wähler anderer Lager verschrecken würde. Der Kandidat wird also zu einem gemäßigteren Umgang und zu einer differenzierteren Debatte angereizt. Dieser Effekt würde bei Mehrheitswahlen besonders stark sein, da es bei der Mehrheitswahl nur einen Sieger geben kann. 2013 konnte dieser Effekt bei der Bürgermeisterwahl in Minneapolis besonders gut beobachtet werden ([Veritasium, 2024](https://www.youtube.com/watch?v=qf7ws2DF-zk&t=330s)): Trotz der schieren Zahl an 35 Bürgermeisterkandidaten verlief der Wahlkampf äußerst harmonisch und konstruktiv, weil sich die Kandidaten aufgrund des Anreizes der Ersatzstimmenwerbung nicht anfeindeten. In einem System ohne Ersatzstimmen wäre Polarisierung und Populismus eine vermutlich erfolgreiche Strategie gewesen.
-10. **Höhere Wahlbeteiligung** ([Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=FUAv4sZ5hB4emHES&t=586)): Weil Wähler mehr Erfolgschancen in ihrer Stimme erkennen, würden sie eher den Versuch unternehmen, Einfluss auf das Wahlergebnis auszuüben.
-11. **Mehrheitskonsistenz**: Im aktuellen System kann es zur Mehrheitsumkehr kommen, also dass ein politisches Lager, das die Mehrheit der Stimmen erhalten hat, nicht die Mehrheit der Mandate erhält, weil ein kleinerer Koalitionspartner an der Hürde scheiterte ([Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=FUAv4sZ5hB4emHES&t=586); [Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)). Das führte bei der Bundestagswahl 2013 zu einer bürgerlich-rechten Mehrheit nach Stimmen, aber einer linken Mehrheit nach Mandaten. Die Ersatzstimme würde das Risiko einer Mehrheitsumkehr mildern.
-12. **Geringere Eintrittsschwelle für Newcomer**: Selbst mit unveränderter Sperrklausel steigt die Wahrscheinlichkeit für den Einzug neuer Parteien oder den Sieg neuer Kandidaten, weil sie deutlich weniger unter taktischem Wahlverhalten leiden.
-13. **Unverfälschte Stimmenstatistik** ([Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)): Die Verteilung der Hauptstimmen spiegelt die tatsächliche Favorisierung der Wähler wider und würde so eine Statistik liefern, die akkurater ist als jede andere bisher zur Verfügung stehende Statistik der Wählergunst. Dadurch eignet sich die Verteilung der Hauptstimmen besonders als Grundlage für die Ermittlung der Zuschüsse für die Parteien.
-14. **Erhalt der 5%-Hürde**: Mit der Ersatzstimme könnte ein System geschaffen werden, in welchem die 5%-Hürde auch ohne Grundmandatsklausel verfassungskonform ist, ohne dabei am Konzentrationseffekt der Sperrklausel einzubüßen ([Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)).
-Einige der Vorteile sind auch im Interesse der großen Parteien, so z.B. die bessere Legitimierung sowie die Mehrheitskonsistenz
-## Nachteile der Ersatzstimme
-1. **Ungeklärte Verfassungskonformität**: Wenngleich die Rechtswissenschaft den Fall der Ersatzstimme "vielfach als verfassungskonform betrachtet" ([Wiss. Dienst d. BT, 2022](https://www.bundestag.de/resource/blob/916908/b6b6d93b8c360555df03d65038f7c630/WD-3-117-22-pdf.pdf)), sind bisherige Gutachten hier unentschieden ([Wiss. Dienst d. LT von Schleswig-Holstein, 2015](https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&url=https://www.landtag.ltsh.de/infothek/wahl18/umdrucke/5400/umdruck-18-5441.pdf&ved=2ahUKEwi90828hKSHAxW88rsIHY_ZCYEQFnoECBgQAQ&usg=AOvVaw1HwEdR1FjxVEI5OOOF8WeZ), [Wiss. Dienst d. BT, 2022](https://www.bundestag.de/resource/blob/916908/b6b6d93b8c360555df03d65038f7c630/WD-3-117-22-pdf.pdf)).
-2. **Erhöhte Komplexität**: Umfragen zufolge können schon im aktuellen Wahlsystem nur 28% der deutschen Wahlberechtigten Erst- und Zweitstimme richtig zuordnen ([pollytix](https://pollytix.de/pollytix-umfrage-offenbart-wissensluecken-zum-wahlsystem/)). Zusätzliche Stimmen könnten den Wähler überfordern. Bei der Ersatzstimme ist sich die Literatur uneinig, ob die Komplexitätszunahme die Schwelle zur fehlenden Normenklarheit überschreitet ([Wiss. Dienst d. BT, 2022](https://www.bundestag.de/resource/blob/916908/b6b6d93b8c360555df03d65038f7c630/WD-3-117-22-pdf.pdf)). Eine Wahlrechtsreform sollte auch die Ursachen für das schlechte Verständnis von Erst- und Zweitstimme beheben.
-3. **Ungewohntheit**: Die Ersatzstimme ist ein noch in der Öffentlichkeit recht unbekanntes System. Dieser psychologische Nachteil lässt sich jedoch überwinden, da ein Gewöhnungseffekt einsetzen würde ([Jesse, 1985](https://academic.oup.com/ahr/article-abstract/91/3/693/48292?redirectedFrom=fulltext), [Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)).
-4. **Erhöhtes Risiko ungültiger Stimmen**: Der Wahlzettel bietet dem Wähler mehr Freiheitsgrade und damit auch mehr Möglichkeiten, beim Ausfüllen Fehler zu begehen. Bisherige Praxiserfahrungen zeigen aber, dass die Fehlerrate selbst im deutlich komplizierteren Fall der Präferenzwahl weiterhin gering ist ([Institute for Mathematics and Democracy, 2024](https://mathematics-democracy-institute.org/deficiencies-in-recent-research-on-ranked-choice-voting-ballot-error-rates/)), so betrug der Anteil ungültiger Stimmzettel bei der Bürgermeisterwahl in San Francisco 2005 nur 0,4% ([New America Foundation & FairVote, 2008](https://archive.fairvote.org/media/irv/irvracememo.pdf)), unabhängig davon ob die Wähler das System vorher bereits kannten oder nicht. Zum Vergleich: Die Zahl ungültiger Stimmen bei der BTW 2021 betrug rund 1% ([Wikipedia](https://de.wikipedia.org/wiki/Bundestagswahl_2021?wprov=sfla1)).
-5. **Erschwerte Nachvollziehbarkeit**: Die Aggregation (Übersetzung von Stimmverteilung in Mandatsverteilung) ist bei der Ersatzstimme komplexer als im bisherigen System. Während bisher ein einfaches Balkendiagramm zur Visualisierung der Ergebnisse genügte, benötigt man bei der Ersatzstimme eine andere Darstellungsform. Möglich ist ein gestapeltes Balkendiagramm aus Haupt- und aktivierten Ersatzstimmen (s. [Beispiel](https://en.wikipedia.org/wiki/Instant-runoff_voting#2009_Burlington_mayoral_election)). Für die Visualisierung der Übertragung der Ersatzstimmen während der Aggregation kommen ein [Sankey-Diagramm](https://www.rcvis.com/v/va-gop-gov#sankey) (s. auch [hier](https://www.electoral-reform.org.uk/voting-systems/types-of-voting-system/supplementary-vote/)) oder ein [iterativ animiertes Balkendiagramm](https://www.rcvis.com/v/va-gop-gov) in Frage.
-6. **Potenziell mehr Parteien in Koalitionen**: Das bisherige Wahlsystem ermutigt Wähler, aus taktischen Gründen aussichtsreiche Wahloptionen zu wählen, um das Risiko des Stimmverlusts zu reduzieren. Dieser Anreiz entfällt im System der Ersatzstimme für die Hauptstimme. Dadurch steigt der Hauptstimmenanteil für kleine Parteien ([Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)), was die Überwindungswahrscheinlichkeit der Sperrklausel für kleine Parteien erhöht. Infolgedessen könnte sich die Zahl der Parteien im Parlament und damit auch in Koalitionen (trotz gleichbleibender Sperrklausel) vergrößern.
-7. **Erhöhter Auszählungsaufwand**: Die Einführung der Ersatzstimme erhöht die Anzahl auszuwertender Stimmen um den Anteil, der auch Gebrauch von der Ersatzstimme gemacht hat. Es wird geschätzt, dass im Fall der Zweitstimme nur 20% der Wähler Gebrauch von der Ersatzstimme machen werden, wodurch der erhöhte Auszählungsaufwand überschaubar wäre. Bei der Erststimme könnten es mehr sein.
-8. **In der Theorie nicht perfekt**: In der Sozialwahltheorie gibt es eine Reihe von [Kriterien](https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialwahltheorie#Qualit%C3%A4tskriterien) zur Beurteilung von Wahlsystemen. Wünschenswerte Wahlsysteme erfüllen möglichst viele Kriterien. Die Ersatzstimme erfüllt mehrere Kriterien nicht, z.B. verletzt sie das [Condorcet-Kriterium](https://de.wikipedia.org/wiki/Condorcet-Methode#Condorcet-Kriterium). Allerdings können ohnehin schon in der Theorie nicht alle Kriterien auf einmal erfüllt werden ([Wikipedia](https://de.wikipedia.org/wiki/Integrierte_Stichwahl#Eigenschaften:_Kriterien)), siehe auch [Arrow-Theorem](https://de.wikipedia.org/wiki/Arrow-Theorem). In der Tat gibt es kein Wahlsystem, das "perfekt" ist ([Hellmann, 2016](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2016-2-389/weg-vom-pfadabhaengigkeitsproblem-praeferenzwahl-in-mehrpersonenwahlkreisen-als-reformoption-des-bundeswahlrechts-jahrgang-47-2016-heft-2?page=1)). Der Anspruch einer Wahlrechtsreform muss jedoch nicht sein, perfekt zu sein, sondern das jetzige Wahlsystem in wesentlichen Punkten zu verbessern.
-## Besonderheiten und mögliche weitere Effekte der Ersatzstimme
-- **Stärkung der politischen Mitte** ([Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=FUAv4sZ5hB4emHES&t=586)): Um im jetzigen Mehrheitswahlsystem zu siegen, genügt es bereits, die größte Minderheit hinter sich zu haben. Dabei sind die übrigen Präferenzen der anderen Minderheiten völlig unerheblich. Dies kann zum Sieg von Extremkandidaten führen, die in der Mehrheit der Bevölkerung keine Akzeptanz finden und in jedem paarweisen Vergleich mit den Kontrahenten unterlegen wären. Bei der Ersatzstimme aber kommt es nicht nur darauf an, der Favorit für eine möglichst großen Zahl an Wählern zu sein, sondern auch als zweitbeste Alternative für möglichst viele andere in Frage zu kommen. Diesen Rückhalt genießen in der Regel Kandidaten der Mitte mehr, da sie mehr Potenzial für Konsens bieten. Entsprechend würde die Ersatzstimme den Sieg von Extremkandidaten unwahrscheinlicher machen. Dies ist keine Bevorzugung von Mitte-Kandidaten in dem Sinne, dass sie einen unfairen Vorteil erhielten, sondern weil dies dem Wählerwillen besser entspricht.
-- **Mehr Aufmerksamkeit für kleine Parteien**: Weil auch Kleinparteien eine ernsthafte Wahloption darstellen ([Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)), könnten sich im Vorfeld der Wahl die Wähler womöglich mehr mit ihnen auseinandersetzen. Außerdem wollen die großen Parteien die Ersatzstimmen der kleinen Parteien erhalten, wodurch ein Anreiz entsteht, dass die großen Parteien die Wünsche von Kleinpartei-Wählern adressieren ([Institut für Wahlreform](http://www.dualwahl.de/)).
-- Auf diese Weise können **große Parteien neue Wählerschichten erschließen** ([Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=FUAv4sZ5hB4emHES&t=586)), indem sie nämlich Ersatzstimmen von Wählern erhalten, sie nur Kleinparteien wählen, aber ihre Ersatzstimme zur Absicherung nutzen. Dieser Effekt erhöht auch den **Zusammenhalt** in der Gesellschaft. Kleinpartei-Wähler bekommen das Gefühl, mit ihrer politischen Meinung am Ende doch noch ernst genommen zu werden. So kann die Ersatzstimme die **Identifikation** mit dem System der repräsentativen Demokratie erhöhen ([Institut für Wahlreform](http://www.dualwahl.de/)).
-- **Die Ersatzstimme zieht die negativen Eigenschaften der Hauptstimme auf sich**. Das betrifft insbesondere Wählerdilemmas, die zum taktischen Wählen zwingen. Die Hauptstimme kann gänzlich gemäß der Vorliebe des Wählers vergeben werden.
-- Neueinsteiger im Bundestag waren bei den letzten Malen immer extreme Parteien (AfD und BSW). Eine Ersatzstimme könnte für Newcomer aus der Mitte verhelfen.
-## Ersatzstimmen und Präferenzwahlen in anderen Ländern
-### Ersatzstimme in Großbritannien
-In England wurde von 2000 bis 2022 die Ersatzstimme (Supplementary Vote) eingesetzt ([Electoral Reform Society](https://www.electoral-reform.org.uk/voting-systems/types-of-voting-system/supplementary-vote/); [UK Parliament](https://www.parliament.uk/about/how/elections-and-voting/voting-systems/)), u. a. für die Wahl des 2000 eingeführten Bürgermeisteramtes ([Wikipedia](https://en.wikipedia.org/wiki/Directly_elected_mayors_in_England#Legislative_changes)). Dabei wurde ein nur einstufiges Aggregationsverfahren angewendet, bei welchem direkt alle außer die Top-2-Kandidaten eliminiert wurden.
-2022 ersetzte der Home Secretary der Conservative Party landesweit die Ersatzstimme durch die einfache Mehrheitswahl. Er begründete dies mit der Londoner Bürgermeisterwahl 2021, bei der die Zahl der ungültigen Stimmen mit 5% einen Rekord erreichte ([BBC, 2021](https://www.bbc.com/news/uk-england-london-57049779)). Schuld daran war allerdings ein ungünstig designter Stimmzettel ([Wikipedia](https://en.wikipedia.org/wiki/Contingent_vote#Supplementary_vote)), dessen Layout dazu führte, dass Wähler irrtümlich zwei Hauptstimmen abgaben:
-![[Screenshot-2021-05-12-at-14.07.04.png]]
-Weil die Kandidaten auf zwei Spalten aufgeteilt wurden, lagen *vier* Stimmenspalten vor, was offenbar einige Wähler dazu verleitete, zwei Hauptstimmen und zwei Ersatzstimmen (eine Stimme pro Spalte) anzugeben. Auch bringen Kritiker an, die Abschaffung der Ersatzstimme nütze der Conservative Party.
-### Präferenzwahlsysteme in den USA
-Seit 2000 implementieren zunehmend mehr Regionen und Städte die Präferenzwahl in ihre Wahlverfahren. Aktuell sind es rund 50 ([FairVote](https://fairvote.org/our-reforms/ranked-choice-voting-information/#where-is-ranked-choice-voting-used)), darunter San Francisco (seit 2002), Minneapolis (seit 2006), Maine (seit 2016), NYC (seit 2021) und Alaska (seit 2022).
-Exit Surveys fanden:
-* dass eine überwältigende Mehrheit (86%) der Wähler die Präferenzwahl verstanden hat, vgl. nur 28% der Deutschen können Erst- und Zweitstimme korrekt zuordnen ([pollytix](https://pollytix.de/pollytix-umfrage-offenbart-wissensluecken-zum-wahlsystem/))
-* dass die Wähler sie einfach fanden (95% in NYC, [Beispiel-Wahlzettel](https://www.nycvotes.org/media/qqbjfttc/sample-ballot-en.pdf))
-* dass die Mehrheit der Wähler (75%) Gebrauch von den Nebenstimmen macht ([New America](https://www.newamerica.org/political-reform/reports/what-we-know-about-ranked-choice-voting/the-voting-experience/))
-* und dass sie die Präferenzwahl in künftigen Wahlen gutheißen würden (56 bis 82%) ([FairVote](https://fairvote.org/report/exit-surveys-report-2024/)).
-Beobachtungen zufolge beeinflusst die Präferenzwahl die Wahlbeteiligung, wenn, dann positiv ([FairVote](https://fairvote.org/ranked-choice-voting-and-voter-turnout/)).
-Die Fehlerrate abgegebener Präferenzwahl-Stimmzettel ist zwar gestiegen, aber insgesamt weiterhin gering ([Institute for Mathematics and Democracy, 2024](https://mathematics-democracy-institute.org/deficiencies-in-recent-research-on-ranked-choice-voting-ballot-error-rates/)), bspw. 2005 nur 0,4% in San Francisco ([New America Foundation & FairVote, 2008](https://archive.fairvote.org/media/irv/irvracememo.pdf)). Die meisten fehlerhaften Stimmzettel können allerdings dennoch berücksichtigt werden, weil sie deutlich den Wählerwillen erkennen lassen.
-### Präferenzwahlsysteme in Irland, Australien und Malta
-Diese drei Staaten wenden für ihre Parlamentswahlen das System der [Übertragbaren Einzelstimmgebung](https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cbertragbare_Einzelstimmgebung) (Single Transferable Vote) an. Bei dieser Sonderform der Präferenzwahl werden mehrere Sieger pro Wahlkreis ermittelt, was ein wesentlicher Unterschied zu deutschen Wahlkreisen ist, wo es nur einen Sieger gibt.
-Malta und Irland führten beide das System 1921 ein, Australien folgte 1948. Aufgrund der Tatsache, dass es mehrere Sieger pro Wahlkreis gibt, ist der angewendete Algorithmus zur Aggregation der Stimmen komplizierter als bspw. bei der integrierten Stichwahl.
-In Australien herrscht Wahlpflicht. Jeder Wähler muss sämtliche Parteien auf dem Zettel durchnummerieren
-### Übersicht
-Oben genannte und weitere Regionen und Länder mit Präferenzwahl oder eines Spezialfalls dessen.
-
-| Region | Amt/Gremium | Wahlsystem | Aggregation | Eingeführt |
-| ------------------- | --------------------------------- | ------------------------------------------------------ | ----------- | ----------- |
-| Queensland | Legislative Assembly | Integrierte Stichwahl | einstufig | 1892 - 1942 |
-| Irland | Parlament | Übertragbaren Einzelstimmgebung | mehrstufig | 1921 |
-| Malta | Parlament | Übertragbare Einzelstimmgebung | mehrstufig | 1921 |
-| Irland | Präsident | Integrierte Stichwahl | mehrstufig | 1938 |
-| Australien | Parlament | Übertragbare Einzelstimmgebung | mehrstufig | 1948 |
-| Ski Lanka | Präsident | Integrierte Stichwahl | einstufig | 1978 |
-| Indien | Präsident | Integrierte Stichwahl | mehrstufig | ? |
-| England | Bürgermeister | Ersatzstimme | einstufig | 2000 - 2022 |
-| Regionen in den USA | Bürgermeister & Parlamente | Präferenzwahl | mehrstufig | 2000 |
-| Papua Neuginea | Parlament | Präferenzwahl bis Rang 3 | mehrstufig | 2003 |
-| Neuseeland | Lokale Parlamente & Bürgermeister | Integrierte Stichwahl & Übertragbare Einzelstimmgebung | mehrstufig | 2004 |
-Für weitere Beispiele, siehe [Wikipedia](https://en.wikipedia.org/wiki/History_and_use_of_instant-runoff_voting).
-## Vergangene Ersatzstimmeninitiativen in Deutschland
-### Integrierte Stichwahl in Brandenburg 2024
-TODO:
-https://www.parlamentsdokumentation.brandenburg.de/starweb/LBB/ELVIS/parladoku/w7/gu/36.pdf
-Alles in allem verfassungskonform, aber nicht wenn einzelne Kommunen sich das aussuchen können.
-### Probeabstimmung auf Abstimmung21
-https://abstimmung21-mitmachen.de/proposals/21-gerechtigkeit-beim-wahlen-keine-verlorenen-stimmen-mehr#comments
-- Abstimmung21: simuliert Volksabstimmungen anhand von vorher demokratisch bestimmten Themen, also wie eine echte Volksabstimmung. Leicht nicht repräsentativ: Eher die, die sich für Demokratie interessieren und online sind
-- 72% für die Ersatzstimme, weniger als erwartet, hoher Anteil Enthaltungen
-### Bundestagswahlrechtsreform 2022/23
-In der Vorbereitungsphase der Wahlrechtsreform wurde die Ersatzstimme als mögliche Lösung für den sehr speziellen Fall diskutiert, verwaiste Wahlkreise zu vermeiden. Die Idee wurde im weiteren Verlauf aber als "wenig überzeugend" bezeichnet und nicht weiter verfolgt. Gründe sind laut [Gesetzentwurf (2023)](https://dserver.bundestag.de/btd/20/053/2005370.pdf) verfassungsrechtliche Bedenken, Überfluss, da die Stimme "in den allermeisten Fällen nicht ausgezählt würde" (nämlich in 97% der Fälle ([InitiativTagung, 2022](https://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/pdf/2022/2022-11-14_Ersatzstimmentagung-Zusammenfassung-Benken-v3.pdf))), und praktische Umstände, weil eine Ersatzstimme eine Umstellung des Wahlakts für den Wähler bedeuten würde. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags stellte für die Ersatzstimme im vorgeschlagenen Setting eine potenzielle Beeinträchtigung von Wahlgrundsätzen fest, die aber ggf. ausreichend legitimiert werden können (s. [[#Ausarbeitung des Wiss. Dienstes des Bundestags 2022]]).
-#### Weitergehende Details
-Die Wahlrechtsreform führt die **Verbundene Mehrheitswahl** ein. Wenn ein Direktkandidat einen Wahlkreis gewonnen hat, aber keine ausreichende Zweitstimmendeckung hat, wird ihm kein Mandat zugeteilt (**verbundene Mehrheitsregel**). Damit der Wahlkreis nicht unbesetzt bleibt, wurde die Einführung von **Ersatzstimmen** vorgeschlagen, um so einen alternativen Gewinner ermitteln zu können. Mit der Ersatzstimme können die Stimmen des mandatslosen Erstplatzierten auf die übrigen Kandidaten verteilt werden.
-Der oben beleuchtete Spezialfall der fehlenden Zweitstimmendeckung ist eine Situation, die anders und nur begrenzt vergleichbar ist mit der Forderung, die in diesem Dossier beleuchtet wird. Der Hauptunterschied liegt darin, dass nicht Verlierer (bspw. eine Partei unter der 5%-Hürde), sondern Gewinner gesperrt werden.
-Die [Wahlrechtskommission](https://www.bundestag.de/ausschuesse/weitere_gremien/kommission-wahlrecht) schlug neben der Ersatzstimme auch andere Modelle vor, mit denen unbesetzte Wahlkreise vermieden werden können, unter anderem ein Präferenzwahlsystem ([Eckpunktepapier Wahlrechtskommission, 2022](https://www.bundestag.de/resource/blob/903330/498c43d8485fc6bf2511dc54d232d77e/K-Drs-029-Eckpunkte-zum-Zwischenbericht-data.pdf)).
-Im Gesetzentwurf der Ampel-Regierung für die Wahlrechtsreform ([Gesetzentwurf, 2023](https://dserver.bundestag.de/btd/20/053/2005370.pdf)) wurde die Ersatzstimme als eine von mehreren "nur weniger überzeugenden Alternativen" angeführt: "Abgesehen von verfassungsrechtlichen Bedenken wäre mit diesem Modell die Einführung einer weiteren Stimme verbunden, die in den allermeisten Fällen nicht ausgezählt würde. Im Übrigen bedeutete dies die größte Umstellung für die Bürgerinnen und Bürger beim Wahlakt selbst. Auch das erscheint nicht vorzugswürdig."
-Konstantin Kuhle, einer der Mitinitiatoren der Ersatzstimme in diesem Kontext, [erläuterte](https://www.wahlreform.de/parteien.htm): "Die Diskussionen im Parlament und in der Öffentlichkeit haben uns jedoch davon überzeugt, dass eine solche Lösung aufgrund ihrer Komplexität auf Akzeptanz- und Legitimationsprobleme stoßen würde."
-#### BVerfG-Urteil vom Juli 2024 ([Pressemitteilung](https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2024/bvg24-064.html))
-Im Kern befand das BVerfG, dass die 5%-Sperrklausel in ihrer reinen Form (also ohne Grundmandatsklausel) zu stark in die Wahlgleichheit eingreifen würde, weil auch Parteien ausgeschlossen würde, die (wie die CSU) nicht zur Fragmentierung des Parlaments beitragen.
-- "Die 5 %-Sperrklausel \[...\] verstößt aber derzeit gegen Art. 21 Abs. 1 \[Mitwirkung der Parteien an politischer Willensbildung\] und Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG \[Gleichheit der Wahl\]."
-- "Der **Grundsatz der Gleichheit der Wahl** gebietet dabei, dass alle Wahlberechtigten das aktive und passive Wahlrecht möglichst in formal gleicher Weise ausüben können."
-- "Die 5 %-Sperrklausel ist unter den geltenden rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen nicht in vollem Umfang erforderlich, um die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestages zu sichern."
-- "Die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien unterliegen keinem absoluten Differenzierungsverbot. Dem Gesetzgeber verbleibt bei der Ordnung des Wahlrechts ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen."
-- "**Der Gesetzgeber kann Neuerungen einführen, die dem bisherigen Wahlrecht fremd waren und Wählerinnen und Wählern ebenso wie Bewerbern und Parteien ein Umdenken abverlangen. Sein Entschluss, das Wahlrecht zu reformieren, ist nicht an besondere Voraussetzungen gebunden.**"
-- "Für Sperrklauseln im Verhältniswahlrecht kann die Sicherung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments einen legitimen Rechtfertigungsgrund darstellen. Maßgeblich für die Beurteilung einer Sperrklausel bei der Wahl zum Deutschen Bundestag sind die ihm in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes zugewiesenen zentralen Funktionen."
-- "Die Sperrklausel ist geeignet, die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu sichern. Mit einer Sperrklausel verhindert das Wahlrecht eine Zersplitterung des Parlaments in viele kleine Gruppen und sichert damit die Funktions- und Arbeitsbedingungen des Bundestages. Sie schafft die Voraussetzungen dafür, dass Zusammenschlüsse von Abgeordneten mit gleichgerichteten politischen Zielen im Bundestag (Fraktionen) grundsätzlich eine bestimmte Mindestgröße haben. Die Höhe der Sperrklausel von 5 % der bundesweiten gültigen Zweitstimmen ist für diesen Zweck sachgerecht. Die in ständiger Rechtsprechung bestätigte Beurteilung hat auch angesichts der zwischenzeitlich eingetretenen rechtlichen und tatsächlichen Änderungen Bestand."
-- "Unter den gegenwärtigen tatsächlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen ist die Ausgestaltung der Sperrklausel in § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG jedoch nicht in vollem Umfang erforderlich. Zur Sicherstellung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestages ist es nicht notwendig, eine Partei bei der Sitzverteilung unberücksichtigt zu lassen, deren Abgeordnete eine gemeinsame Fraktion mit den Abgeordneten einer anderen Partei bilden würden, wenn beide Parteien gemeinsam das Fünf-Prozent-Quorum erreichen würden."
-- "**Das Ziel der Sperrklausel wird in gleicher Weise erreicht, wenn die Zweitstimmenergebnisse von Parteien, die \[wie CDU und CSU\] kooperieren, gemeinsam berücksichtigt werden. Darin liegende Ungleichbehandlungen sind gerechtfertigt.**"
- - "Die Kooperation der CSU mit der CDU zeichnet sich letztlich durch drei Elemente aus: erstens die Absicht, aufgrund gleichgerichteter politischer Ziele eine Fraktion zu bilden, zweitens den Umstand, dass schon bisher eben eine solche gemeinsame Fraktion im Bundestag bestand, und drittens den Verzicht auf Wettbewerb untereinander, indem Landeslisten nur in unterschiedlichen Ländern eingereicht werden."
- - "Es kann offen bleiben, inwieweit die gemeinsame Berücksichtigung von Parteien bei der Überwindung der Sperrklausel gerechtfertigt ist, wenn lediglich einzelne der drei Voraussetzungen vorliegen. Jedenfalls gemeinsam rechtfertigen sie unter den gegenwärtigen rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen die Bevorzugung einer Kooperation, wie sie CSU und CDU praktizieren."
-- "Der Gesetzgeber ist zwar verpflichtet, die Sperrklausel so auszugestalten, dass sie unter den derzeitigen rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen nicht über das zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Bundestages Erforderliche hinausgeht. Er ist aber nicht auf die Einführung einer Möglichkeit der gemeinsamen Berücksichtigung zweier, in der dargestellten Form kooperierender Parteien beschränkt. **Vielmehr kann er die Sperrklausel auch in anderer Weise modifizieren**."
-### Saarland (2015)
-Von den Piraten eingebracht ([Gesetzesentwurf](https://www.landtag-saar.de/file.ashx?FileName=Gs15_1541.pdf)). Wurde mehrheitlich von CDU, SPD und Grünen abgelehnt ([Plenardebatte](https://www.jura.fu-berlin.de/fachbereich/einrichtungen/oeffentliches-recht/emeriti/pestalozzac/Ressourcen/1_-Lesung-13_-Okt-2015-LT-Drs_15_41.pdf)).
-#### Angebrachte Gegenargumente
-1. **Einschränkung der Ernsthaftigkeit der politischen Entscheidung** (Heinz Bierbaum, Linke): Ersatzstimme würde eine Beliebigkeit schüren: "Na gut, Partei A kam nicht rein, dann wähle ich halt Partei B." Ähnliches Argument von CDU: "Wenn Sie vor dem Traualtar stehen und der Priester Sie fragt, ob Sie diese Frau heiraten wollen, dann müssen Sie Ja oder Nein sagen. Sie können nicht sagen: „Ja, aber wenn es mit der nicht klappt, dann nehme ich eben die andere!“ (Heiterkeit.) So ist das im Leben. So gehört sich das auch in der Politik. Und ich finde, das ist auch gut so, meine sehr verehrten Damen und Herren."
- - **Einordnung**: Ansichtssache. Mit der Argumentation müssten auch konsequenterweise Stichwahlen abgeschafft werden. Die Ersatzstimme kann gedanklich als 2. Wahlgang vorgestellt werden (s.o.).
-2. **Bevorzugung großer Parteien** (Heinz Bierbaum, Linke): Die Ersatzstimme würde große Parteien bevorzugen, da Wähler, die befürchten, dass ihre bevorzugte kleinere Partei es nicht ins Parlament schafft, eine größere Partei als Ersatz wählen würden.
- - **Einordnung**: Falschbehauptung. Der Effekt, die Stimme lieber einer sicher einziehenden Partei zu geben statt der bedrohten Lieblingspartei, besteht bereits im jetzigen Wahlsystem. Eine Ersatzstimme würde diesen Effekt von der Hauptstimme entfernen und auf sich ziehen. Dadurch, dass mithilfe der Ersatzstimme mehr Stimmen Berücksichtigung finden werden, wird zwar die Gesamtzahl der Stimmen (und damit die Legitimation) der einziehenden Parteien größer. Dies ist aber keine Bevorzugung der großen Parteien, da der Zusatz an Stimmen erst aus den Ersatzstimmen resultiert, deren jeweilige Hauptstimme bei einer Kleinpartei keine Berücksichtigung fand. Im Gegenteil, ein zu erwartender Effekt ist durch den Wegfall der taktischen Wahl eine Verlagerung der Hauptstimme von großen auf die tatsächlich präferierten Parteien (was bei taktischem Wahlverhalten typischerweise kleinere Parteien sein dürften).
-3. **Verfassungsrechtliche Bedenken** (Petra Berg, SPD): Die Ersatzstimme verstoße gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl, der eine vorbehaltlose und bedingungsfreie Stimmabgabe erfordere. Die Ersatzstimme ist jedoch an die Erfolglosigkeit der ersten Stimme gebunden, was zu verfassungsrechtlichen Problemen führe.
- - **Einordnung**: Nicht notwendigerweise ein Problem. Die Literatur ist sich in dem Punkt uneinig (s. [[#Ausarbeitung des Wiss. Dienstes des Bundestags 2022]]). Ggf. kann eine solche Einschränkung durch die verbesserte Wählerintegration rechtfertigt werden
-4. **Auszählung aufwendiger** (Petra Berg, SPD): Die Auszählung der Ersatzstimmen wäre praktisch schwierig umzusetzen und würde den Prozess erheblich verkomplizieren.
- - **Einordnung**: Zwar ist der Auszählaufwand größer, aber dennoch problemlos durchführbar, wie es in den USA in 50 Regionen sogar bei der Präferenzwahl mit mehreren Nebenstimmen vorgemacht wird.
-5. **Keine verlorene Stimme** (Heinz Bierbaum, Linke): Eine Stimme für eine Partei, die es nicht ins Parlament schafft, solle nicht als verloren betrachtet werden, da sie Teil des politischen Wettbewerbs ist und zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung beiträgt. Denn Politik finde auch außerhalb des Parlaments statt.
- - **Einordnung**: Ansichtssache. Vielleicht ist nicht die Stimme verloren, aber ihre Wirkung auf die Verteilung der Parlamentssitze ist definitiv verloren.
-6. **Reduzierte Eindeutigkeit der Wahl** (Heinz Bierbaum, Linke): Die Einführung einer Ersatzstimme würde der Eindeutigkeit der Wahlentscheidung widersprechen, da die Stimmabgabe klar und eindeutig sein solle.
- - **Einordnung**: Falschbehauptung. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags befand mittlerweile, dass die Eindeutigkeit gegeben ist (s. [[#Ausarbeitung des Wiss. Dienstes des Bundestags 2022]]).
-7. **Verkomplizierung**: Ziel solle sein, das ohnehin schon komplizierte Politik- und Wahlsystem einfacher zu machen.
- - **Einordnung**: Ansichtssache. Trade-off zwischen Einfachheit und vielen anderen Faktoren wie Fairness usw.
-8. **Mehr taktisches Wählen**: "Noch mehr taktische Überlegungen als eigene Überzeugungen."
- - **Einordnung**: Unbelegt. Wie oben erklärt wird der Effekt taktischer Stimmabgabe auf die Ersatzstimme verlagert, nicht verstärkt. Die wirklich wichtige Hauptstimme kann nach der reinen Erstpräferenz abgegeben werden (keine Wahltaktik).
-### Schleswig-Holstein (2012 - 2016)
-Einführung der Ersatzstimme von den Piraten eingebracht ([Gesetzentwurf](https://www.jura.fu-berlin.de/fachbereich/einrichtungen/oeffentliches-recht/emeriti/pestalozzac/Ressourcen/1_-Lesung-13_-Okt-2015-LT-Drs_15_41.pdf)) und deutlich intensiver diskutiert als im Saarland, aber 2016 ebenfalls abgelehnt ([Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=YaFXJOT2EeLSqPgV), [Protokoll Innen- & Rechtsausschuss](http://www.landtag.ltsh.de/export/sites/ltsh/infothek/wahl18/aussch/iur/niederschrift/2014/18-065_05-14.pdf#page=13), [SHZ-Artikel](https://web.archive.org/web/20220601063826/https://www.shz.de/lokales/kiel/artikel/ersatzstimme-bei-landtagswahlen-spd-will-piraten-vorschlag-ueberdenken-41523481)).
-Grüne standen der Ersatzstimme positiv gegenüber, die SPD war zögerlich, aber aufgeschlossen, hatte es intern aber nicht ausreichend thematisiert. Der dritte Koalitionspartner SSW (der als Minderheitenpartei nicht durch die Sperrklausel betroffen ist) war stark gegen die Ersatzstimme.
-Sogar Präferenzwahl in ihrer allgemeinen Form (hier Rangwahlverfahren) wurde mit dem Argument, Schleswig-Holstein zu einem Vorreiter einer demokratischen Innovation zu machen, angebracht. Die Präferenzwahl wurde zwar als "nicht verkehrt" betrachtet, jedoch überwog die "Angst vor dem Neuen" dem "Reiz des Neuen" ([Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=FUAv4sZ5hB4emHES&t=586)).
-Das [Gutachten](https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&url=https://www.landtag.ltsh.de/infothek/wahl18/umdrucke/5400/umdruck-18-5441.pdf&ved=2ahUKEwi90828hKSHAxW88rsIHY_ZCYEQFnoECBgQAQ&usg=AOvVaw1HwEdR1FjxVEI5OOOF8WeZ) des wiss. Dienstes kam zu keinem klaren Ergebnis hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Ersatzstimme.
-#### Weitergehende Details
-Die Ersatzstimme wurde ursprünglich von den Piraten als mildere Alternative zur Abschaffung der 5%-Hürde angebracht.
-##### Die Haltung der SPD
-Der SPD-Verhandlungsführer war zwar aufgeschlossen, hatte jedoch auf der Fraktionssitzung nur 5 Minuten Zeit, um über das Thema zu sprechen (
-[Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=y69IkAvVQgjYtfr-&t=360)), "es täte ihm leid". Die SPD machte zur Bedingung, dass die Ersatzstimme verfassungsgemäß sei ([SHZ-Artikel](https://web.archive.org/web/20220601063826/https://www.shz.de/lokales/kiel/artikel/ersatzstimme-bei-landtagswahlen-spd-will-piraten-vorschlag-ueberdenken-41523481)).
-##### Die Haltung von SSW
-Besonders gut im [Vortrag über die gescheiterte Initiative durch Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=8hVntKqbzH8136CR&t=442) dargelegt: SSW opponierte die Ersatzstimme deutlich:
-* "Was anderen Kleinparteien nützen kann, das kann uns nur schaden."
-* Ersatzstimme sei "reine Symptom- statt Ursachenbekämpfung"
-* Ersatzstimme würde das Wahlsystem unnötig verkomplizieren
-* Würde Unmittelbarkeit der Wahl widersprechen
-SSW ist als Minderheitenpartei gesondert vor der Sperrklausel geschützt, auf sie wird die Sperrklausel nicht angewendet.
-##### Gutachten des wiss. Diensts
-Der wiss. Dienst des Landtages befand (s. [Gutachten](https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&url=https://www.landtag.ltsh.de/infothek/wahl18/umdrucke/5400/umdruck-18-5441.pdf&ved=2ahUKEwi90828hKSHAxW88rsIHY_ZCYEQFnoECBgQAQ&usg=AOvVaw1HwEdR1FjxVEI5OOOF8WeZ)), dass sowohl für als auch gegen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Einführung einer Ersatzstimme gewichtige Argumente sprechen. Da es keine höchstrichterliche Rechtsprechung zu diesem Thema gibt, bleibt die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Ersatzstimme letztlich offen. Ggf. wären Verfassungsänderungen notwendig, um die Einführung der Ersatzstimme zu ermöglichen.
-Weber von Mehr Demokratie e.V.: "Mittlerweile hielten auch einige Wissenschaftler die Einführung einer Ersatzstimme für geboten, sollte an der Fünf-Prozent-Hürde festgehalten werden."
-##### Diskussion im Innen- und Rechtsausschuss
-**Angebrachte Gegenargumente**:
-- **Stimme nicht verloren**: Die Nichtberücksichtigung von Stimmen für Parteien unter der Sperrklausel führe nicht zu einer Entwertung der Stimmen, da die Parteien durch die Stimmen Aufmerksamkeit, Zugang zu öffentlichen Diskussionen und zur staatlichen Parteienfinanzierung erhielten.
- - **Einordnung**: Ansichtssache. Vielleicht ist nicht die Stimme verloren, aber ihre Wirkung auf die Verteilung der Parlamentssitze ist definitiv verloren.
-- **Verstoß gegen Grundsatz der unmittelbaren Stimmabgabe** (Nico Lange, KAS):
- - **Einordnung**: Nicht notwendigerweise ein Problem. Die Literatur ist sich in dem Punkt uneinig (s. [[#Ausarbeitung des Wiss. Dienstes des Bundestags 2022]]). Ggf. kann eine solche Einschränkung durch die verbesserte Wählerintegration rechtfertigt werden
-- **Verletzung der eindeutigen, klaren und unmittelbar wirkenden Wahlentscheidung** (Nico Lange, KAS): Er bezweifle, dass ein Wahlberechtigter vor der Wahl erkennen könne, wie sich seine Stimme auf die politischen Wettbewerber auswirke. Eine höchstrichterliche Klärung dieser Frage stehe noch aus.
- - **Einordnung**: Falschbehauptung. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags befand mittlerweile, dass die Eindeutigkeit gegeben ist (s. [[#Ausarbeitung des Wiss. Dienstes des Bundestags 2022]]).
-### Sonstiges
-2011 versuchte ein Bürger per öffentlicher Petition die Einbringung der Ersatzstimme in den Bundestag. "In der achtwöchigen Mitzeichnungsfrist hatten sich nicht einmal 400 Unterstützer gefunden. Der Bundestag lehnte den Vorstoß im April 2011 ab." ([SHZ](https://web.archive.org/web/20220601063826/https://www.shz.de/lokales/kiel/artikel/ersatzstimme-bei-landtagswahlen-spd-will-piraten-vorschlag-ueberdenken-41523481))"
-Mehr Demokratie e.V. versuchte, in Berlin die Einbringung der Ersatzstimme. "Die Innenbehörde des Senats erklärte den Vorstoß \[...\] für rechtlich nicht zulässig; die Ersatzstimme verstoße gegen den Grundsatz der „Unmittelbarkeit der Wahl“." ([SHZ](https://web.archive.org/web/20220601063826/https://www.shz.de/lokales/kiel/artikel/ersatzstimme-bei-landtagswahlen-spd-will-piraten-vorschlag-ueberdenken-41523481))
-#### Mehr Demokratie e.V.
-Setzt sich schon seit geraumer Zeit für Ersatzstimmen in Deutschland ein, s. bspw. ihren [Bericht](https://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/pdf/2022/2022-11-14_Ersatzstimmentagung-Zusammenfassung-Benken-v3.pdf) und [Aufzeichnung](https://www.youtube.com/watch?v=jNwZ3PIP6J0&list=PLRLt57BRPAiIj0Z_8gVQia_E2nxaP_Jhp) ihrer "InitiativTagung" zur Ersatzstimme oder ihre [Online-Petition](https://www.mehr-demokratie.de/mehr-bewegen/kampagnen/rettet-die-stimmen).
-#### [Abstimmung21](https://abstimmung21.de/ersatzstimme-bei-bundestagswahlen/)
-## Juristische Gutachten & Literatur
-### Gutachten des Wiss. Dienstes des Landtags von Schleswig-Holstein (2015)
-[Zum Gutachten](https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&url=https://www.landtag.ltsh.de/infothek/wahl18/umdrucke/5400/umdruck-18-5441.pdf&ved=2ahUKEwi90828hKSHAxW88rsIHY_ZCYEQFnoECBgQAQ&usg=AOvVaw1HwEdR1FjxVEI5OOOF8WeZ)
-Sowohl für als auch gegen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Einführung einer Ersatzstimme sprechen gewichtige Argumente. Mangels höchstrichterlicher Rechtsprechung bleibt die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Ersatzstimme offen. Ggf. wären Verfassungsänderungen (im Saarland) notwendig, um die Einführung der Ersatzstimme zu ermöglichen.
-#### Hauptargumente für die Verfassungsmäßigkeit der Ersatzstimme:
-1. **Unmittelbarkeit der Wahl**:
- - Die Einführung der Ersatzstimme führt nicht dazu, dass eine Instanz zwischen Wähler und Abgeordnete geschaltet wird, die die Entscheidung beeinflusst.
- - Sowohl Haupt- als auch Hilfsstimme werden direkt vom Wähler abgegeben, und keine andere Instanz nimmt eine Entscheidung vor.
- - Die Ersatzstimme ermöglicht es, erfolglose Stimmen erneut zu werten, was die direkte Legitimation der Abgeordneten unterstützt.
-2. **Gleichheit der Wahl**:
- - Jede Stimme behält formal den gleichen Zähl- und Erfolgswert, da alle Wähler die Möglichkeit haben, eine Ersatzstimme abzugeben.
- - Die Ersatzstimme fördert die Erfolgswertgleichheit, da sie verhindert, dass Stimmen verloren gehen, wenn eine Partei die Sperrklausel nicht überschreitet.
-3. **Chancengleichheit der Parteien**:
- - Alle Parteien werden gleich behandelt, da jeder Wähler frei entscheiden kann, welcher Partei er eine Ersatzstimme gibt.
- - Die Ersatzstimme fördert die Chancengleichheit, indem sie kleineren Parteien hilft, die Sperrklausel zu überwinden und so die Vielfalt im Parlament zu erhöhen.
-#### Hauptargumente gegen die Verfassungsmäßigkeit der Ersatzstimme:
-1. **Unmittelbarkeit der Wahl**:
- - Einige Stimmen argumentieren, dass der Wähler sich vorbehaltlos und bedingungsfrei entscheiden muss, was durch die Ersatzstimme nicht gegeben sei.
- - Das taktische Wählerverhalten bei der Abgabe von Haupt- und Hilfsstimme könnte den Grundsatz der Unmittelbarkeit und das Demokratieprinzip beeinträchtigen.
-2. **Gleichheit der Wahl**:
- - Ein Verstoß gegen die Gleichheit der Wahl könnte vorliegen, da die Zählwerte der Stimmen unterschiedlich behandelt werden könnten.
- - Ein Wähler, dessen Zweitstimme erst durch die Hilfsstimme relevant wird, hat faktisch zwei Stimmen abgegeben, was die Stimmkraft ungleich machen könnte.
-3. **Chancengleichheit der Parteien**:
- - Es wird argumentiert, dass die Ersatzstimme einen ungerechten Vorteil für bestimmte Parteien schaffen könnte, insbesondere für diejenigen, die nahe an der Sperrklausel sind.
-### Urteil des BVerfG (2017)
-[Zum Leitsatz](https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/09/cs20170919_2bvc004614.html)
-Urteilte: "Die Einführung einer Eventualstimme \[Ersatzstimme\] für den Fall, dass die über die Hauptstimme mit Priorität gewählte Partei wegen der Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht die erforderliche Mindeststimmenzahl erhält, ist verfassungsrechtlich nicht geboten." Eine eindeutige Entscheidung zur Zulässigkeit der Ersatzstimme wurde nicht getroffen.
-- Ersatzstimme kann den Eingriff der Sperrklausel in den Grundsatz der gleichen Wahl abmildern
-- Ersatzstimme erhöht Komplexität der Wahl. Dadurch Zunahme von Wahlenthaltungen und ungültigen Stimmen nicht ausgeschlossen.
-- Möglicherweise wird Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl berührt
-Es sei Aufgabe des Gesetzgebers, die Vor- und Nachteile der Ersatzstimme gegeneinander abzuwägen und entsprechend über eine Einführung zu entscheiden.
-#### Einordnung durch Dr. Benken
-http://www.dualwahl.de/#bverfg
-Demnach ist das BVerfG einigen wichtigen Falschannahmen aufgesessen.
-#### Stellungnahme in der Zeitschrift für das Juristische Studium
-[Zur Stellungnahme](https://www.zjs-online.com/dat/artikel/2018_2_1206.pdf)
-- "Ein Wahlrecht mit Eventualstimme ist gleich gut geeignet, die Funktionsfähigkeit des Bundestags zu wahren, wie das aktuelle Wahlrecht. Da eine Sperrklausel mit Eventualstimme gegenüber der aktuellen Sperrklausel ohne Eventualstimme ein milderes, gleich geeignetes Mittel ist, ist die aktuelle Regelung nicht erforderlich. Die unkompensierte Fünf-ProzentHürde in § 6 Abs. 3 S. 1 Var. 1 BWahlG ohne Einführung einer Eventualstimme ist deshalb verfassungswidrig."
-- "Die Einführung der Eventualstimme könnte vom Bundestag mit einfacher Mehrheit beschlossen werden. Die Union hätte bei der Bundestagswahl 2013 durch das Scheitern der FDP und der AfD im Falle der Einführung des Eventualstimmenkonzepts wahrscheinlich viele Stimmen gewonnen (unter der Annahme, dass sich das Wählerverhalten nicht gravierend geändert hätte). Bei der Bundestagswahl 2017 haben jedoch FDP und AfD den Einzug in den Bundestag geschafft. Da bei einer Einführung der Eventualstimme langfristig eher mit Verlusten der größeren Parteien zu rechnen ist, ist es ohne Druck aus der Gesellschaft sehr unwahrscheinlich, dass die Eventualstimme über den Bundestag in das Bundeswahlgesetz eingeführt wird."
-### Ausarbeitung des Wiss. Dienstes des Bundestags (2022)
-[Zur Ausarbeitung](https://www.bundestag.de/resource/blob/916908/b6b6d93b8c360555df03d65038f7c630/WD-3-117-22-pdf.pdf)
-Überprüfte die Einführung der **Ersatzstimme** im Kontext der [[#Bundestag-Wahlrechtsreform 2022/23]] für den speziellen Fall, wo der Wahlkreisgewinner wegen fehlender Zweitstimmendeckung kein Mandat erhält. In Summe stellt die Ausarbeitung fest, dass die Ersatzstimme die **Komplexität** des Wahlvorgangs erhöhe und damit die **Unmittelbarkeit** der Wahl berühre. Auch die **Wahlgleichheit** könnte berührt werden. Diese **potenziellen** Beeinträchtigungen können ggf. über die Erhöhung der Integrationsfunktion der Wahl (weniger unberücksichtigte Wähler) ausreichend gerechtfertigt werden. Die Einführung einer Ersatzstimme (im allgemeinen Fall) werde in der Rechtswissenschaft "vielfach als verfassungskonform betrachtet".
-#### Weitergehende Details
-"Ähnliche „Eventualstimmen“-Modelle sind bereits mit Blick auf die Abfederung der Wirkungen der Fünf-Prozent-Hürde diskutiert worden und in der Rechtswissenschaft vielfach als verfassungskonform betrachtet worden."
-Keine **doppelte Wertung** der Stimmen von einem Wähler im Vergleich zu anderen Wählern.
-Der gestiegene Auszählungsaufwand (bspw. durch einen zusätzlichen Auszählungstermin für die Ersatzstimmen) beeinträchtigt nicht die **Öffentlichkeit** der Wahl.
-##### Zur Unmittelbarkeit
-- **Unmittelbarkeit** im Sinne von "keine Instanz dazwischen" ist gewahrt.
-- **Unmittelbarkeit** im Sinne von Erkennbarkeit der Wirkung der Stimmabgabe: "Die vom Bundesverfassungsgericht verlangte Zurechenbarkeit einer jeden Stimme für bestimmte oder bestimmbare Wahlbewerber ist auch nach dem bisher erklärten Konzept der Ersatzstimme möglich."
-- Teil der Literatur versteht Unmittelbarkeit als: Die Stimmenabgabe muss **vorbehaltlos und bedingungsfrei** erfolgen, wogegen eine Ersatzstimme einschränkend wäre. Mit ausreichender Begründung (die wäre mit der höheren Integrationsfunktion der Wahl gegeben) wäre die Einschränkung gerechtfertigt.
-## Wissenschaftliche Paper
-### Daniel Hellmann (2016)
-**"Weg vom Pfadabhängigkeitsproblem: Präferenzwahl in Mehrpersonenwahlkreisen als Reformoption des Bundeswahlrechts?" in Zeitschrift für Parlamentsfragen**. [Zum Paper](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2016-2-389/weg-vom-pfadabhaengigkeitsproblem-praeferenzwahl-in-mehrpersonenwahlkreisen-als-reformoption-des-bundeswahlrechts-jahrgang-47-2016-heft-2?page=1)
-Das Dokument argumentiert, dass **Single Transferrable Vote** (STV, eine Variante der Präferenzwahl für Mehrkandidatenwahlkreise) eine vielversprechende Alternative zur personalisierten Verhältniswahl sein könnte, da es proportionalere Ergebnisse und eine größere Wählerpartizipation (Ausdrucksfähigkeit des Wählerwillens) bietet.
-Dennoch müssten die Implikationen und möglichen Nachteile einer solchen Reform gründlich geprüft werden, bevor eine Implementierung in Deutschland in Betracht gezogen wird.
-### Graeb und Vetter (2018)
-**"Ersatzstimme statt personalisierter Verhältniswahl: Mögliche Auswirkungen auf die Wahlen zum Deutschen Bundestag"** [Zum Paper](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)
-Untersuchte empirisch anhand einer Wahlumfrage unter knapp 900 Personen, wie sich die Ersatzstimme auf das Wahlverhalten auswirkt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Einführung einer Ersatzstimme dazu führen könnte, dass kleinere Parteien mehr Hauptstimmen erhalten, während gleichzeitig die etablierten Parteien durch die Ersatzstimmen profitieren könnten.
-Die Autoren betonen, dass die Einführung einer Ersatzstimme das Wahlverhalten und die Zusammensetzung des Bundestags signifikant beeinflussen würde. Wähler würden eher ihrer Präferenz folgen und kleinere Parteien mit der Hauptstimme wählen, während sie die Ersatzstimme strategisch nutzen, um sicherzustellen, dass ihre Stimme im Parlament repräsentiert wird. Dies könnte zu einer genaueren Abbildung der Wählerpräferenzen bei der Hauptstimme führen, während die unveränderte Sperrklausel weiterhin die Fragmentierung des Parlaments begrenzt. Allerdings wird darauf hingewiesen, dass die Auswirkungen in der Realität möglicherweise **stärker** ausfallen könnten, da die Komplexität des neuen Wahlsystems und die Gewöhnung der Wähler an dieses System in der Studie nicht vollständig abgebildet werden konnten.
-### Alexander Dilger (2021)
-**"Einfache Vermeidung von Stimmverlusten durch Prozent-Hürden" im Diskussionspapier des Instituts für Organisationsökonomik**. [Zum Paper](https://www.wiwi.uni-muenster.de/io/de/forschen/downloads/DP-IO_07_2021)
-Beleuchtet die Präferenzwahl als effektive Maßnahme gegen Stimmverluste durch die 5%-Hürde. Schlägt als vereinfachende Alternative vor, dass nicht die Wähler ihre nachfolgende Alternativpartei bestimmen, sondern die Partei selbst. In diesem Modell legt die Partei im Voraus fest, an welche andere Partei ihre Stimmen gehen sollen, falls sie selbst die Hürde nicht überwindet. So setzt der Wähler weiterhin nur ein einzelnes Kreuz.
-## Gegenargumente & Mythen
-### Die Ersatzstimme steigert taktisches Wählen
-**Beispiel**: Es ist Bundestagswahl, die CDU liegt in den Umfragen vorn, die FDP nahe der 5%-Hürde. Ein CDU-Wähler hätte gerne die FDP als Koalitionspartner. Um ihr den Sprung über die Sperrklausel zu verhelfen, wählt der CDU-Wähler taktisch die FDP, denn er hat nichts zu verlieren: Entweder verhilft er der FDP wie gewünscht über die 5% oder seine Stimme geht an seine Lieblingspartei, die CDU.
-**Einordnung**: Dieses Phänomen ist nicht neu und nennt sich "Leihstimme". Leihstimmen waren schon in der Vergangenheit bereits ohne die Ersatzstimme vorgekommen, sogar im Rahmen von ganzen Kampagnen ([Zeit Online, 2013](https://www.zeit.de/politik/deutschland/2013-09/FDP-Leihstimme-Bundestagswahl-CDU)). Der Unterschied liegt im Risiko, den der Wähler mit seiner Leihstimme eingeht. Ohne die Ersatzstimme könnte die Leihstimme verloren sein, wenn die FDP die Hürde nicht schafft. Mit Ersatzstimme ist dieses Risiko weg.
-Warum das aber im Kontext der Ersatzstimme dennoch kein ausschlaggebendes Problem ist: [TODO]
-1. In wesentlich mehr Fällen wird taktisches Wählen mit der Hauptstimme reduziert.
-2. Die taktische Wahl im obigen Szenario ist nicht durch den möglichen Verlust der eigenen Stimme erzwungen, sondern freiwillig und dadurch weniger schlimm als erzwungenes taktisches Wählen.
-3. Das obige Szenario ist nicht selten, aber dennoch nicht der Regelfall, während andererseits regelmäßig Millionen von Kleinparteiwählern zur taktischen Wahl gezwungen werden.
-4. Wenn die FDP an der Sperrklausel scheitern sollte, dann gingen durch die Ersatzstimme 60% der FDP-Stimmen an die CDU. Dann hat die CDU am Ende vielleicht sogar mehr davon als von einer Koalition mit der FDP.
-### Der Erfolgswert der Ersatzstimme ist bei den Parteien unterschiedlich => Verletzte Chancengleichheit
-Unbelegt und bisher nicht beobachtet. Wahlstrategie der Wähler nicht vorhersehbar, daher ist dieser Einwand hinsichtlich Verfassungstreue nicht im Vorhinein einzuordnen. ([Protokoll Innen- & Rechtsausschuss Schleswig-Holstein](http://www.landtag.ltsh.de/export/sites/ltsh/infothek/wahl18/aussch/iur/niederschrift/2014/18-065_05-14.pdf#page=13)) Der Erfolgswert wäre außerdem nicht geringer im Vergleich zum Erfolgswert der aktuell implementierten Zweitstimme.
-### Es ist unfair, dass die Ersatzstimmen eines Wählers, dessen Hauptstimme Anwendung fand, nicht zählen
-Unter der realistischen Annahme, dass der Wähler seine Hauptstimme an seine tatsächliche Erstpräferenz vergeben hat, kann vermutlich davon ausgegangen werden, dass die finale Wertung der Stimme (die wie bei anderen Wählern höchstens eine ist) im Sinne des Wählers ist.
-Gedanklich fungiert die Ersatzstimme ja wie ein zweiter Wahlgang. Wenn der Lieblingskandidat im zweiten Wahlgang wieder antritt, so würde der Wähler diesen (bei gleich bleibender Ausgangslage) wiederwählen.
-Die Ersatzstimme kompensiert lediglich den Wegfall der Hauptstimme. Sie ist eine Absicherung, die im Sinne des Wählers nur dann greifen soll, wenn die Hauptstimme verfiel.
-### Die Ersatzstimme verdoppelt die Erfolgschancen eines Wählers
-Tut sie nicht, da sie lediglich den Misserfolg der Hauptstimme kompensiert. "Im Ergebnis sind damit Zählwert und Erfolgschance der Ersatzstimmen und der dazugezählten \[... Hauptstimmen der Hauptstimme\] anderer Wähler formal gleich." ([Wiss. Dienst d. BT, 2022](https://www.bundestag.de/resource/blob/916908/b6b6d93b8c360555df03d65038f7c630/WD-3-117-22-pdf.pdf))
-### Ein Wahlsieger, der nicht die meisten Erststimmen erhalten hat, ist kein Mehrheitssieger
-Mit der Ersatzstimme verändert sich auch die Definition von "Mehrheit" insofern, dass der Mehrheitssieger nicht mehr derjenige ist, der lediglich die meisten Hauptstimmen auf sich vereinen konnte, sondern den meisten **Rückhalt** hat, also die größte Summe aus Haupt- und übertragenen Ersatzstimmen.
-### Das BVerfG hat doch schon geurteilt, dass die Ersatzstimme nicht verfassungskonform ist. Warum noch fordern?
-Das BVerfG stellte in seinem Urteil ([BVerfG Leitsatz, 2017](https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/09/cs20170919_2bvc004614.html)) keine Verfassungswidrigkeit der Ersatzstimme fest, sondern lediglich, dass es verfassungsrechtlich "nicht geboten" ist, die Ersatzstimme einzuführen. Das bedeutet, dass der Gesetzgeber nicht **verpflichtet** ist, die Ersatzstimme einzuführen (es jedoch könnte).
-### Eine Ersatzstimme könnte dazu führen, dass Wählerinnen und Wähler im Sinne eines Freischusses einer Partei ihre Stimme geben, ohne dass damit die notwendige Ernsthaftigkeit verbunden wäre, die eine Wahlentscheidung erfordert.
-Denn es würde ja immer noch eine weitere Stimme berücksichtigt.
-[TODO]
-### Da diese Ersatzstimme wahrscheinlich einer größeren Partei gegeben wird, die sicher über 5 % der Zweitstimmen erhält, würden damit im Endeffekt die größeren Parteien gestärkt.
-[TODO]
-### Die Erschließung von Wählern von Kleinparteien in große Parteien könnte den kleinen schaden
-[TODO]
-### Das ist dann halt so!
-[TODO]
-## Sonst noch zu klären
-Neben der entsprechenden Wahlgesetze müssen auch weitere Gesetze bei Einführung der Präferenzwahl angepasst werden.
-- **Parteienfinanzierung**: Vorschlag: Gänzlich nach Verteilung der Hauptstimmen orientieren, da diese unverfälscht die tatsächlichen Wählerpräferenzen widerspiegeln.
-## Weiterführende Links
-- [Buch von 2023: Mehr Demokratie Dank Ersatzstimme? ](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783748914983/mehr-demokratie-dank-ersatzstimme?hitid=7152&search-click&page=1 )
-- [Gesetzesvorschlag zur Einführung der Ersatzstimme ins BWahlG](http://bwahlg.de/)
-- [RankedVote: Online-Präferenzwahltool](https://www.rankedvote.co/)
-- [RCVis: Visualisierungstool für Präferenzwahlen](https://www.rcvis.com/ )
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@@ -0,0 +1,6 @@
+### Probeabstimmung auf Abstimmung21
+[Zur Abstimmung](https://abstimmung21.de/ersatzstimme-bei-bundestagswahlen/)
+
+https://abstimmung21-mitmachen.de/proposals/21-gerechtigkeit-beim-wahlen-keine-verlorenen-stimmen-mehr#comments
+- Abstimmung21: simuliert Volksabstimmungen anhand von vorher demokratisch bestimmten Themen, also wie eine echte Volksabstimmung. Leicht nicht repräsentativ: Eher die, die sich für Demokratie interessieren und online sind
+- 72% für die Ersatzstimme, weniger als erwartet, hoher Anteil Enthaltungen
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@@ -0,0 +1,5 @@
+[TODO]
+Die Grünen treiben dort die Einführung der Integrierte Stichwahl voran.
+
+https://www.parlamentsdokumentation.brandenburg.de/starweb/LBB/ELVIS/parladoku/w7/gu/36.pdf
+Alles in allem verfassungskonform, aber nicht wenn einzelne Kommunen sich das aussuchen können.
\ No newline at end of file
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+++ b/content/Initiativen/Bundestagswahlrechtsreform 2022.md
@@ -0,0 +1,31 @@
+## Zusammenfassung
+In der Vorbereitungsphase der Wahlrechtsreform wurde die Ersatzstimme als mögliche Lösung für den sehr speziellen Fall diskutiert, verwaiste Wahlkreise zu vermeiden. Die Idee wurde im weiteren Verlauf aber als "wenig überzeugend" bezeichnet und nicht weiter verfolgt. Gründe sind laut [Gesetzentwurf (2023)](https://dserver.bundestag.de/btd/20/053/2005370.pdf) verfassungsrechtliche Bedenken, Überfluss, da die Stimme "in den allermeisten Fällen nicht ausgezählt würde" (nämlich in 97% der Fälle ([InitiativTagung, 2022](https://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/pdf/2022/2022-11-14_Ersatzstimmentagung-Zusammenfassung-Benken-v3.pdf))), und praktische Umstände, weil eine Ersatzstimme eine Umstellung des Wahlakts für den Wähler bedeuten würde. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags stellte für die Ersatzstimme im vorgeschlagenen Setting eine potenzielle Beeinträchtigung von Wahlgrundsätzen fest, die aber ggf. ausreichend legitimiert werden können (s. [[#Ausarbeitung des Wiss. Dienstes des Bundestags 2022]]).
+
+## Hintergründe
+
+Die Wahlrechtsreform führt die **Verbundene Mehrheitswahl** ein. Wenn ein Direktkandidat einen Wahlkreis gewonnen hat, aber keine ausreichende Zweitstimmendeckung hat, wird ihm kein Mandat zugeteilt (**verbundene Mehrheitsregel**). Damit der Wahlkreis nicht unbesetzt bleibt, wurde die Einführung von **Ersatzstimmen** vorgeschlagen, um so einen alternativen Gewinner ermitteln zu können. Mit der Ersatzstimme können die Stimmen des mandatslosen Erstplatzierten auf die übrigen Kandidaten verteilt werden.
+
+Der oben beleuchtete Spezialfall der fehlenden Zweitstimmendeckung ist eine Situation, die anders und nur begrenzt vergleichbar ist mit der Forderung, die in diesem Dossier beleuchtet wird. Der Hauptunterschied liegt darin, dass nicht Verlierer (bspw. eine Partei unter der 5%-Hürde), sondern Gewinner gesperrt werden.
+
+Die [Wahlrechtskommission](https://www.bundestag.de/ausschuesse/weitere_gremien/kommission-wahlrecht) schlug neben der Ersatzstimme auch andere Modelle vor, mit denen unbesetzte Wahlkreise vermieden werden können, unter anderem ein Präferenzwahlsystem ([Eckpunktepapier Wahlrechtskommission, 2022](https://www.bundestag.de/resource/blob/903330/498c43d8485fc6bf2511dc54d232d77e/K-Drs-029-Eckpunkte-zum-Zwischenbericht-data.pdf)).
+
+Im Gesetzentwurf der Ampel-Regierung für die Wahlrechtsreform ([Gesetzentwurf, 2023](https://dserver.bundestag.de/btd/20/053/2005370.pdf)) wurde die Ersatzstimme als eine von mehreren "nur weniger überzeugenden Alternativen" angeführt: "Abgesehen von verfassungsrechtlichen Bedenken wäre mit diesem Modell die Einführung einer weiteren Stimme verbunden, die in den allermeisten Fällen nicht ausgezählt würde. Im Übrigen bedeutete dies die größte Umstellung für die Bürgerinnen und Bürger beim Wahlakt selbst. Auch das erscheint nicht vorzugswürdig."
+
+Konstantin Kuhle, einer der Mitinitiatoren der Ersatzstimme in diesem Kontext, [erläuterte](https://www.wahlreform.de/parteien.htm): "Die Diskussionen im Parlament und in der Öffentlichkeit haben uns jedoch davon überzeugt, dass eine solche Lösung aufgrund ihrer Komplexität auf Akzeptanz- und Legitimationsprobleme stoßen würde."
+
+## BVerfG-Urteil vom Juli 2024
+### [Pressemitteilung](https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2024/bvg24-064.html)
+
+Im Kern befand das BVerfG, dass die 5%-Sperrklausel in ihrer reinen Form (also ohne Grundmandatsklausel) zu stark in die Wahlgleichheit eingreifen würde, weil auch Parteien ausgeschlossen würde, die (wie die CSU) nicht zur Fragmentierung des Parlaments beitragen.
+- "Die 5 %-Sperrklausel \[...\] verstößt aber derzeit gegen Art. 21 Abs. 1 \[Mitwirkung der Parteien an politischer Willensbildung\] und Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG \[Gleichheit der Wahl\]."
+- "Der **Grundsatz der Gleichheit der Wahl** gebietet dabei, dass alle Wahlberechtigten das aktive und passive Wahlrecht möglichst in formal gleicher Weise ausüben können."
+- "Die 5 %-Sperrklausel ist unter den geltenden rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen nicht in vollem Umfang erforderlich, um die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestages zu sichern."
+- "Die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien unterliegen keinem absoluten Differenzierungsverbot. Dem Gesetzgeber verbleibt bei der Ordnung des Wahlrechts ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen."
+- "**Der Gesetzgeber kann Neuerungen einführen, die dem bisherigen Wahlrecht fremd waren und Wählerinnen und Wählern ebenso wie Bewerbern und Parteien ein Umdenken abverlangen. Sein Entschluss, das Wahlrecht zu reformieren, ist nicht an besondere Voraussetzungen gebunden.**"
+- "Für Sperrklauseln im Verhältniswahlrecht kann die Sicherung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments einen legitimen Rechtfertigungsgrund darstellen. Maßgeblich für die Beurteilung einer Sperrklausel bei der Wahl zum Deutschen Bundestag sind die ihm in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes zugewiesenen zentralen Funktionen."
+- "Die Sperrklausel ist geeignet, die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu sichern. Mit einer Sperrklausel verhindert das Wahlrecht eine Zersplitterung des Parlaments in viele kleine Gruppen und sichert damit die Funktions- und Arbeitsbedingungen des Bundestages. Sie schafft die Voraussetzungen dafür, dass Zusammenschlüsse von Abgeordneten mit gleichgerichteten politischen Zielen im Bundestag (Fraktionen) grundsätzlich eine bestimmte Mindestgröße haben. Die Höhe der Sperrklausel von 5 % der bundesweiten gültigen Zweitstimmen ist für diesen Zweck sachgerecht. Die in ständiger Rechtsprechung bestätigte Beurteilung hat auch angesichts der zwischenzeitlich eingetretenen rechtlichen und tatsächlichen Änderungen Bestand."
+- "Unter den gegenwärtigen tatsächlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen ist die Ausgestaltung der Sperrklausel in § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG jedoch nicht in vollem Umfang erforderlich. Zur Sicherstellung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestages ist es nicht notwendig, eine Partei bei der Sitzverteilung unberücksichtigt zu lassen, deren Abgeordnete eine gemeinsame Fraktion mit den Abgeordneten einer anderen Partei bilden würden, wenn beide Parteien gemeinsam das Fünf-Prozent-Quorum erreichen würden."
+- "**Das Ziel der Sperrklausel wird in gleicher Weise erreicht, wenn die Zweitstimmenergebnisse von Parteien, die \[wie CDU und CSU\] kooperieren, gemeinsam berücksichtigt werden. Darin liegende Ungleichbehandlungen sind gerechtfertigt.**"
+ - "Die Kooperation der CSU mit der CDU zeichnet sich letztlich durch drei Elemente aus: erstens die Absicht, aufgrund gleichgerichteter politischer Ziele eine Fraktion zu bilden, zweitens den Umstand, dass schon bisher eben eine solche gemeinsame Fraktion im Bundestag bestand, und drittens den Verzicht auf Wettbewerb untereinander, indem Landeslisten nur in unterschiedlichen Ländern eingereicht werden."
+ - "Es kann offen bleiben, inwieweit die gemeinsame Berücksichtigung von Parteien bei der Überwindung der Sperrklausel gerechtfertigt ist, wenn lediglich einzelne der drei Voraussetzungen vorliegen. Jedenfalls gemeinsam rechtfertigen sie unter den gegenwärtigen rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen die Bevorzugung einer Kooperation, wie sie CSU und CDU praktizieren."
+- "Der Gesetzgeber ist zwar verpflichtet, die Sperrklausel so auszugestalten, dass sie unter den derzeitigen rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen nicht über das zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Bundestages Erforderliche hinausgeht. Er ist aber nicht auf die Einführung einer Möglichkeit der gemeinsamen Berücksichtigung zweier, in der dargestellten Form kooperierender Parteien beschränkt. **Vielmehr kann er die Sperrklausel auch in anderer Weise modifizieren**."
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@@ -0,0 +1,18 @@
+Von den Piraten eingebracht ([Gesetzesentwurf](https://www.landtag-saar.de/file.ashx?FileName=Gs15_1541.pdf)). Wurde mehrheitlich von CDU, SPD und Grünen abgelehnt ([Plenardebatte](https://www.jura.fu-berlin.de/fachbereich/einrichtungen/oeffentliches-recht/emeriti/pestalozzac/Ressourcen/1_-Lesung-13_-Okt-2015-LT-Drs_15_41.pdf)).
+#### Angebrachte Gegenargumente
+1. **Einschränkung der Ernsthaftigkeit der politischen Entscheidung** (Heinz Bierbaum, Linke): Ersatzstimme würde eine Beliebigkeit schüren: "Na gut, Partei A kam nicht rein, dann wähle ich halt Partei B." Ähnliches Argument von CDU: "Wenn Sie vor dem Traualtar stehen und der Priester Sie fragt, ob Sie diese Frau heiraten wollen, dann müssen Sie Ja oder Nein sagen. Sie können nicht sagen: „Ja, aber wenn es mit der nicht klappt, dann nehme ich eben die andere!“ (Heiterkeit.) So ist das im Leben. So gehört sich das auch in der Politik. Und ich finde, das ist auch gut so, meine sehr verehrten Damen und Herren."
+ - **Einordnung**: Ansichtssache. Mit der Argumentation müssten auch konsequenterweise Stichwahlen abgeschafft werden. Die Ersatzstimme kann gedanklich als 2. Wahlgang vorgestellt werden (s.o.).
+2. **Bevorzugung großer Parteien** (Heinz Bierbaum, Linke): Die Ersatzstimme würde große Parteien bevorzugen, da Wähler, die befürchten, dass ihre bevorzugte kleinere Partei es nicht ins Parlament schafft, eine größere Partei als Ersatz wählen würden.
+ - **Einordnung**: Falschbehauptung. Der Effekt, die Stimme lieber einer sicher einziehenden Partei zu geben statt der bedrohten Lieblingspartei, besteht bereits im jetzigen Wahlsystem. Eine Ersatzstimme würde diesen Effekt von der Hauptstimme entfernen und auf sich ziehen. Dadurch, dass mithilfe der Ersatzstimme mehr Stimmen Berücksichtigung finden werden, wird zwar die Gesamtzahl der Stimmen (und damit die Legitimation) der einziehenden Parteien größer. Dies ist aber keine Bevorzugung der großen Parteien, da der Zusatz an Stimmen erst aus den Ersatzstimmen resultiert, deren jeweilige Hauptstimme bei einer Kleinpartei keine Berücksichtigung fand. Im Gegenteil, ein zu erwartender Effekt ist durch den Wegfall der taktischen Wahl eine Verlagerung der Hauptstimme von großen auf die tatsächlich präferierten Parteien (was bei taktischem Wahlverhalten typischerweise kleinere Parteien sein dürften).
+3. **Verfassungsrechtliche Bedenken** (Petra Berg, SPD): Die Ersatzstimme verstoße gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl, der eine vorbehaltlose und bedingungsfreie Stimmabgabe erfordere. Die Ersatzstimme ist jedoch an die Erfolglosigkeit der ersten Stimme gebunden, was zu verfassungsrechtlichen Problemen führe.
+ - **Einordnung**: Nicht notwendigerweise ein Problem. Die Literatur ist sich in dem Punkt uneinig (s. [[#Ausarbeitung des Wiss. Dienstes des Bundestags 2022]]). Ggf. kann eine solche Einschränkung durch die verbesserte Wählerintegration rechtfertigt werden
+4. **Auszählung aufwendiger** (Petra Berg, SPD): Die Auszählung der Ersatzstimmen wäre praktisch schwierig umzusetzen und würde den Prozess erheblich verkomplizieren.
+ - **Einordnung**: Zwar ist der Auszählaufwand größer, aber dennoch problemlos durchführbar, wie es in den USA in 50 Regionen sogar bei der Präferenzwahl mit mehreren Nebenstimmen vorgemacht wird.
+5. **Keine verlorene Stimme** (Heinz Bierbaum, Linke): Eine Stimme für eine Partei, die es nicht ins Parlament schafft, solle nicht als verloren betrachtet werden, da sie Teil des politischen Wettbewerbs ist und zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung beiträgt. Denn Politik finde auch außerhalb des Parlaments statt.
+ - **Einordnung**: Ansichtssache. Vielleicht ist nicht die Stimme verloren, aber ihre Wirkung auf die Verteilung der Parlamentssitze ist definitiv verloren.
+6. **Reduzierte Eindeutigkeit der Wahl** (Heinz Bierbaum, Linke): Die Einführung einer Ersatzstimme würde der Eindeutigkeit der Wahlentscheidung widersprechen, da die Stimmabgabe klar und eindeutig sein solle.
+ - **Einordnung**: Falschbehauptung. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags befand mittlerweile, dass die Eindeutigkeit gegeben ist (s. [[#Ausarbeitung des Wiss. Dienstes des Bundestags 2022]]).
+7. **Verkomplizierung**: Ziel solle sein, das ohnehin schon komplizierte Politik- und Wahlsystem einfacher zu machen.
+ - **Einordnung**: Ansichtssache. Trade-off zwischen Einfachheit und vielen anderen Faktoren wie Fairness usw.
+8. **Mehr taktisches Wählen**: "Noch mehr taktische Überlegungen als eigene Überzeugungen."
+ - **Einordnung**: Unbelegt. Wie oben erklärt wird der Effekt taktischer Stimmabgabe auf die Ersatzstimme verlagert, nicht verstärkt. Die wirklich wichtige Hauptstimme kann nach der reinen Erstpräferenz abgegeben werden (keine Wahltaktik).
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+++ b/content/Initiativen/Schleswig-Holstein 2012 - 2016.md
@@ -0,0 +1,27 @@
+Einführung der Ersatzstimme von den Piraten eingebracht ([Gesetzentwurf](https://www.jura.fu-berlin.de/fachbereich/einrichtungen/oeffentliches-recht/emeriti/pestalozzac/Ressourcen/1_-Lesung-13_-Okt-2015-LT-Drs_15_41.pdf)) und deutlich intensiver diskutiert als im Saarland, aber 2016 ebenfalls abgelehnt ([Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=YaFXJOT2EeLSqPgV), [Protokoll Innen- & Rechtsausschuss](http://www.landtag.ltsh.de/export/sites/ltsh/infothek/wahl18/aussch/iur/niederschrift/2014/18-065_05-14.pdf#page=13), [SHZ-Artikel](https://web.archive.org/web/20220601063826/https://www.shz.de/lokales/kiel/artikel/ersatzstimme-bei-landtagswahlen-spd-will-piraten-vorschlag-ueberdenken-41523481)).
+Grüne standen der Ersatzstimme positiv gegenüber, die SPD war zögerlich, aber aufgeschlossen, hatte es intern aber nicht ausreichend thematisiert. Der dritte Koalitionspartner SSW (der als Minderheitenpartei nicht durch die Sperrklausel betroffen ist) war stark gegen die Ersatzstimme.
+Sogar Präferenzwahl in ihrer allgemeinen Form (hier Rangwahlverfahren) wurde mit dem Argument, Schleswig-Holstein zu einem Vorreiter einer demokratischen Innovation zu machen, angebracht. Die Präferenzwahl wurde zwar als "nicht verkehrt" betrachtet, jedoch überwog die "Angst vor dem Neuen" dem "Reiz des Neuen" ([Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=FUAv4sZ5hB4emHES&t=586)).
+Das [Gutachten](https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&url=https://www.landtag.ltsh.de/infothek/wahl18/umdrucke/5400/umdruck-18-5441.pdf&ved=2ahUKEwi90828hKSHAxW88rsIHY_ZCYEQFnoECBgQAQ&usg=AOvVaw1HwEdR1FjxVEI5OOOF8WeZ) des wiss. Dienstes kam zu keinem klaren Ergebnis hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Ersatzstimme.
+#### Weitergehende Details
+Die Ersatzstimme wurde ursprünglich von den Piraten als mildere Alternative zur Abschaffung der 5%-Hürde angebracht.
+##### Die Haltung der SPD
+Der SPD-Verhandlungsführer war zwar aufgeschlossen, hatte jedoch auf der Fraktionssitzung nur 5 Minuten Zeit, um über das Thema zu sprechen (
+[Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=y69IkAvVQgjYtfr-&t=360)), "es täte ihm leid". Die SPD machte zur Bedingung, dass die Ersatzstimme verfassungsgemäß sei ([SHZ-Artikel](https://web.archive.org/web/20220601063826/https://www.shz.de/lokales/kiel/artikel/ersatzstimme-bei-landtagswahlen-spd-will-piraten-vorschlag-ueberdenken-41523481)).
+##### Die Haltung von SSW
+Besonders gut im [Vortrag über die gescheiterte Initiative durch Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=8hVntKqbzH8136CR&t=442) dargelegt: SSW opponierte die Ersatzstimme deutlich:
+* "Was anderen Kleinparteien nützen kann, das kann uns nur schaden."
+* Ersatzstimme sei "reine Symptom- statt Ursachenbekämpfung"
+* Ersatzstimme würde das Wahlsystem unnötig verkomplizieren
+* Würde Unmittelbarkeit der Wahl widersprechen
+SSW ist als Minderheitenpartei gesondert vor der Sperrklausel geschützt, auf sie wird die Sperrklausel nicht angewendet.
+##### Gutachten des wiss. Diensts
+Der wiss. Dienst des Landtages befand (s. [Gutachten](https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&url=https://www.landtag.ltsh.de/infothek/wahl18/umdrucke/5400/umdruck-18-5441.pdf&ved=2ahUKEwi90828hKSHAxW88rsIHY_ZCYEQFnoECBgQAQ&usg=AOvVaw1HwEdR1FjxVEI5OOOF8WeZ)), dass sowohl für als auch gegen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Einführung einer Ersatzstimme gewichtige Argumente sprechen. Da es keine höchstrichterliche Rechtsprechung zu diesem Thema gibt, bleibt die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Ersatzstimme letztlich offen. Ggf. wären Verfassungsänderungen notwendig, um die Einführung der Ersatzstimme zu ermöglichen.
+Weber von Mehr Demokratie e.V.: "Mittlerweile hielten auch einige Wissenschaftler die Einführung einer Ersatzstimme für geboten, sollte an der Fünf-Prozent-Hürde festgehalten werden."
+##### Diskussion im Innen- und Rechtsausschuss
+**Angebrachte Gegenargumente**:
+- **Stimme nicht verloren**: Die Nichtberücksichtigung von Stimmen für Parteien unter der Sperrklausel führe nicht zu einer Entwertung der Stimmen, da die Parteien durch die Stimmen Aufmerksamkeit, Zugang zu öffentlichen Diskussionen und zur staatlichen Parteienfinanzierung erhielten.
+ - **Einordnung**: Ansichtssache. Vielleicht ist nicht die Stimme verloren, aber ihre Wirkung auf die Verteilung der Parlamentssitze ist definitiv verloren.
+- **Verstoß gegen Grundsatz der unmittelbaren Stimmabgabe** (Nico Lange, KAS):
+ - **Einordnung**: Nicht notwendigerweise ein Problem. Die Literatur ist sich in dem Punkt uneinig (s. [[#Ausarbeitung des Wiss. Dienstes des Bundestags 2022]]). Ggf. kann eine solche Einschränkung durch die verbesserte Wählerintegration rechtfertigt werden
+- **Verletzung der eindeutigen, klaren und unmittelbar wirkenden Wahlentscheidung** (Nico Lange, KAS): Er bezweifle, dass ein Wahlberechtigter vor der Wahl erkennen könne, wie sich seine Stimme auf die politischen Wettbewerber auswirke. Eine höchstrichterliche Klärung dieser Frage stehe noch aus.
+ - **Einordnung**: Falschbehauptung. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags befand mittlerweile, dass die Eindeutigkeit gegeben ist (s. [[#Ausarbeitung des Wiss. Dienstes des Bundestags 2022]]).
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+++ b/content/Literatur/BVerfG 2017.md
@@ -0,0 +1,14 @@
+### Urteil des BVerfG (2017)
+[Zum Leitsatz](https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/09/cs20170919_2bvc004614.html)
+Urteilte: "Die Einführung einer Eventualstimme \[Ersatzstimme\] für den Fall, dass die über die Hauptstimme mit Priorität gewählte Partei wegen der Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht die erforderliche Mindeststimmenzahl erhält, ist verfassungsrechtlich nicht geboten." Eine eindeutige Entscheidung zur Zulässigkeit der Ersatzstimme wurde nicht getroffen.
+- Ersatzstimme kann den Eingriff der Sperrklausel in den Grundsatz der gleichen Wahl abmildern
+- Ersatzstimme erhöht Komplexität der Wahl. Dadurch Zunahme von Wahlenthaltungen und ungültigen Stimmen nicht ausgeschlossen.
+- Möglicherweise wird Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl berührt
+Es sei Aufgabe des Gesetzgebers, die Vor- und Nachteile der Ersatzstimme gegeneinander abzuwägen und entsprechend über eine Einführung zu entscheiden.
+#### Einordnung durch Dr. Benken
+http://www.dualwahl.de/#bverfg
+Demnach ist das BVerfG einigen wichtigen Falschannahmen aufgesessen.
+#### Stellungnahme in der Zeitschrift für das Juristische Studium
+[Zur Stellungnahme](https://www.zjs-online.com/dat/artikel/2018_2_1206.pdf)
+- "Ein Wahlrecht mit Eventualstimme ist gleich gut geeignet, die Funktionsfähigkeit des Bundestags zu wahren, wie das aktuelle Wahlrecht. Da eine Sperrklausel mit Eventualstimme gegenüber der aktuellen Sperrklausel ohne Eventualstimme ein milderes, gleich geeignetes Mittel ist, ist die aktuelle Regelung nicht erforderlich. Die unkompensierte Fünf-ProzentHürde in § 6 Abs. 3 S. 1 Var. 1 BWahlG ohne Einführung einer Eventualstimme ist deshalb verfassungswidrig."
+- "Die Einführung der Eventualstimme könnte vom Bundestag mit einfacher Mehrheit beschlossen werden. Die Union hätte bei der Bundestagswahl 2013 durch das Scheitern der FDP und der AfD im Falle der Einführung des Eventualstimmenkonzepts wahrscheinlich viele Stimmen gewonnen (unter der Annahme, dass sich das Wählerverhalten nicht gravierend geändert hätte). Bei der Bundestagswahl 2017 haben jedoch FDP und AfD den Einzug in den Bundestag geschafft. Da bei einer Einführung der Eventualstimme langfristig eher mit Verlusten der größeren Parteien zu rechnen ist, ist es ohne Druck aus der Gesellschaft sehr unwahrscheinlich, dass die Eventualstimme über den Bundestag in das Bundeswahlgesetz eingeführt wird."
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+++ b/content/Literatur/Dilger 2021.md
@@ -0,0 +1,3 @@
+### Alexander Dilger (2021)
+**"Einfache Vermeidung von Stimmverlusten durch Prozent-Hürden" im Diskussionspapier des Instituts für Organisationsökonomik**. [Zum Paper](https://www.wiwi.uni-muenster.de/io/de/forschen/downloads/DP-IO_07_2021)
+Beleuchtet die Präferenzwahl als effektive Maßnahme gegen Stimmverluste durch die 5%-Hürde. Schlägt als vereinfachende Alternative vor, dass nicht die Wähler ihre nachfolgende Alternativpartei bestimmen, sondern die Partei selbst. In diesem Modell legt die Partei im Voraus fest, an welche andere Partei ihre Stimmen gehen sollen, falls sie selbst die Hürde nicht überwindet. So setzt der Wähler weiterhin nur ein einzelnes Kreuz.
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@@ -0,0 +1,4 @@
+### Graeb und Vetter (2018)
+**"Ersatzstimme statt personalisierter Verhältniswahl: Mögliche Auswirkungen auf die Wahlen zum Deutschen Bundestag"** [Zum Paper](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)
+Untersuchte empirisch anhand einer Wahlumfrage unter knapp 900 Personen, wie sich die Ersatzstimme auf das Wahlverhalten auswirkt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Einführung einer Ersatzstimme dazu führen könnte, dass kleinere Parteien mehr Hauptstimmen erhalten, während gleichzeitig die etablierten Parteien durch die Ersatzstimmen profitieren könnten.
+Die Autoren betonen, dass die Einführung einer Ersatzstimme das Wahlverhalten und die Zusammensetzung des Bundestags signifikant beeinflussen würde. Wähler würden eher ihrer Präferenz folgen und kleinere Parteien mit der Hauptstimme wählen, während sie die Ersatzstimme strategisch nutzen, um sicherzustellen, dass ihre Stimme im Parlament repräsentiert wird. Dies könnte zu einer genaueren Abbildung der Wählerpräferenzen bei der Hauptstimme führen, während die unveränderte Sperrklausel weiterhin die Fragmentierung des Parlaments begrenzt. Allerdings wird darauf hingewiesen, dass die Auswirkungen in der Realität möglicherweise **stärker** ausfallen könnten, da die Komplexität des neuen Wahlsystems und die Gewöhnung der Wähler an dieses System in der Studie nicht vollständig abgebildet werden konnten.
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@@ -0,0 +1,3 @@
+**"Weg vom Pfadabhängigkeitsproblem: Präferenzwahl in Mehrpersonenwahlkreisen als Reformoption des Bundeswahlrechts?" in Zeitschrift für Parlamentsfragen**. [Zum Paper](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2016-2-389/weg-vom-pfadabhaengigkeitsproblem-praeferenzwahl-in-mehrpersonenwahlkreisen-als-reformoption-des-bundeswahlrechts-jahrgang-47-2016-heft-2?page=1)
+Das Dokument argumentiert, dass **Single Transferrable Vote** (STV, eine Variante der Präferenzwahl für Mehrkandidatenwahlkreise) eine vielversprechende Alternative zur personalisierten Verhältniswahl sein könnte, da es proportionalere Ergebnisse und eine größere Wählerpartizipation (Ausdrucksfähigkeit des Wählerwillens) bietet.
+Dennoch müssten die Implikationen und möglichen Nachteile einer solchen Reform gründlich geprüft werden, bevor eine Implementierung in Deutschland in Betracht gezogen wird.
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+++ b/content/Literatur/WD BT 2022.md
@@ -0,0 +1,11 @@
+### Ausarbeitung des Wiss. Dienstes des Bundestags (2022)
+[Zur Ausarbeitung](https://www.bundestag.de/resource/blob/916908/b6b6d93b8c360555df03d65038f7c630/WD-3-117-22-pdf.pdf)
+Überprüfte die Einführung der **Ersatzstimme** im Kontext der [[#Bundestag-Wahlrechtsreform 2022/23]] für den speziellen Fall, wo der Wahlkreisgewinner wegen fehlender Zweitstimmendeckung kein Mandat erhält. In Summe stellt die Ausarbeitung fest, dass die Ersatzstimme die **Komplexität** des Wahlvorgangs erhöhe und damit die **Unmittelbarkeit** der Wahl berühre. Auch die **Wahlgleichheit** könnte berührt werden. Diese **potenziellen** Beeinträchtigungen können ggf. über die Erhöhung der Integrationsfunktion der Wahl (weniger unberücksichtigte Wähler) ausreichend gerechtfertigt werden. Die Einführung einer Ersatzstimme (im allgemeinen Fall) werde in der Rechtswissenschaft "vielfach als verfassungskonform betrachtet".
+#### Weitergehende Details
+"Ähnliche „Eventualstimmen“-Modelle sind bereits mit Blick auf die Abfederung der Wirkungen der Fünf-Prozent-Hürde diskutiert worden und in der Rechtswissenschaft vielfach als verfassungskonform betrachtet worden."
+Keine **doppelte Wertung** der Stimmen von einem Wähler im Vergleich zu anderen Wählern.
+Der gestiegene Auszählungsaufwand (bspw. durch einen zusätzlichen Auszählungstermin für die Ersatzstimmen) beeinträchtigt nicht die **Öffentlichkeit** der Wahl.
+##### Zur Unmittelbarkeit
+- **Unmittelbarkeit** im Sinne von "keine Instanz dazwischen" ist gewahrt.
+- **Unmittelbarkeit** im Sinne von Erkennbarkeit der Wirkung der Stimmabgabe: "Die vom Bundesverfassungsgericht verlangte Zurechenbarkeit einer jeden Stimme für bestimmte oder bestimmbare Wahlbewerber ist auch nach dem bisher erklärten Konzept der Ersatzstimme möglich."
+- Teil der Literatur versteht Unmittelbarkeit als: Die Stimmenabgabe muss **vorbehaltlos und bedingungsfrei** erfolgen, wogegen eine Ersatzstimme einschränkend wäre. Mit ausreichender Begründung (die wäre mit der höheren Integrationsfunktion der Wahl gegeben) wäre die Einschränkung gerechtfertigt.
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@@ -0,0 +1,23 @@
+# Gutachten des Wiss. Dienstes des Landtags von Schleswig-Holstein (2015)
+[Zum Gutachten](https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&url=https://www.landtag.ltsh.de/infothek/wahl18/umdrucke/5400/umdruck-18-5441.pdf&ved=2ahUKEwi90828hKSHAxW88rsIHY_ZCYEQFnoECBgQAQ&usg=AOvVaw1HwEdR1FjxVEI5OOOF8WeZ)
+Sowohl für als auch gegen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Einführung einer Ersatzstimme sprechen gewichtige Argumente. Mangels höchstrichterlicher Rechtsprechung bleibt die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Ersatzstimme offen. Ggf. wären Verfassungsänderungen (im Saarland) notwendig, um die Einführung der Ersatzstimme zu ermöglichen.
+#### Hauptargumente für die Verfassungsmäßigkeit der Ersatzstimme:
+1. **Unmittelbarkeit der Wahl**:
+ - Die Einführung der Ersatzstimme führt nicht dazu, dass eine Instanz zwischen Wähler und Abgeordnete geschaltet wird, die die Entscheidung beeinflusst.
+ - Sowohl Haupt- als auch Hilfsstimme werden direkt vom Wähler abgegeben, und keine andere Instanz nimmt eine Entscheidung vor.
+ - Die Ersatzstimme ermöglicht es, erfolglose Stimmen erneut zu werten, was die direkte Legitimation der Abgeordneten unterstützt.
+2. **Gleichheit der Wahl**:
+ - Jede Stimme behält formal den gleichen Zähl- und Erfolgswert, da alle Wähler die Möglichkeit haben, eine Ersatzstimme abzugeben.
+ - Die Ersatzstimme fördert die Erfolgswertgleichheit, da sie verhindert, dass Stimmen verloren gehen, wenn eine Partei die Sperrklausel nicht überschreitet.
+3. **Chancengleichheit der Parteien**:
+ - Alle Parteien werden gleich behandelt, da jeder Wähler frei entscheiden kann, welcher Partei er eine Ersatzstimme gibt.
+ - Die Ersatzstimme fördert die Chancengleichheit, indem sie kleineren Parteien hilft, die Sperrklausel zu überwinden und so die Vielfalt im Parlament zu erhöhen.
+#### Hauptargumente gegen die Verfassungsmäßigkeit der Ersatzstimme:
+1. **Unmittelbarkeit der Wahl**:
+ - Einige Stimmen argumentieren, dass der Wähler sich vorbehaltlos und bedingungsfrei entscheiden muss, was durch die Ersatzstimme nicht gegeben sei.
+ - Das taktische Wählerverhalten bei der Abgabe von Haupt- und Hilfsstimme könnte den Grundsatz der Unmittelbarkeit und das Demokratieprinzip beeinträchtigen.
+2. **Gleichheit der Wahl**:
+ - Ein Verstoß gegen die Gleichheit der Wahl könnte vorliegen, da die Zählwerte der Stimmen unterschiedlich behandelt werden könnten.
+ - Ein Wähler, dessen Zweitstimme erst durch die Hilfsstimme relevant wird, hat faktisch zwei Stimmen abgegeben, was die Stimmkraft ungleich machen könnte.
+3. **Chancengleichheit der Parteien**:
+ - Es wird argumentiert, dass die Ersatzstimme einen ungerechten Vorteil für bestimmte Parteien schaffen könnte, insbesondere für diejenigen, die nahe an der Sperrklausel sind.
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+++ "b/content/Pr\303\244ferenzwahl.md"
@@ -0,0 +1,15 @@
+"Eine **Präferenzwahl,** Rangfolgewahl, Präferenzstimmgebung oder Vorzugswahl (engl. *Ranked Choice Voting, RCV*) ist ein Wahlverfahren, bei welchem Wähler nicht nur _einen_ Kandidaten (oder sonst eine Option) angeben können, sondern eine Rangfolge gemäß ihrer Vorliebe." ([Wikipedia](https://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4ferenzwahl)) Eine nachrangige Präferenz kann nur wirken, wenn alle vorrangigen nicht wirken (etwa wegen einer Sperrklausel).
+
+Die Präferenzwahl kann sowohl bei Verhältnis- als auch bei Mehrheitswahlen angewendet werden. Sperrklauseln können bestehen bleiben. Die Stimmen nachrangiger Präferenzen werden auch als Nebenstimmen bezeichnet. Das System der Ersatzstimme hat nur eine Nebenstimme.
+
+## Stimmzettelbeispiele der Präferenzwahl
+
+| Ankreuzen | Auflistung | Nummerierung |
+| ----------------------- | ------------------------ | ------------------------------------- |
+| ![[Rankballotoval.gif]] | ![[Rankballotname2.gif]] | ![[Preferential_ballot.svg.png\|220]] |
+### Variationen der Präferenzwahl
+
+| | Ein Gewinner | Mehrere Gewinner |
+| ------------------------ | --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- | -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- |
+| **Eine Nebenstimme** | **Ersatzstimme**
*[Supplementary Vote (SV)](https://en.wikipedia.org/wiki/Contingent_vote#Supplementary_vote)*
| - |
+| **Mehrere Nebenstimmen** | **Integrierte Stichwahl**
*[Instant-Runoff Voting (IRV)](https://en.wikipedia.org/wiki/Instant-runoff_voting)* (bei mehrstufiger Aggregation)
*[Contingent Vote (CV)](https://en.wikipedia.org/wiki/Contingent_vote)* (bei einstufiger Aggregation) | **Übertragbare Einzelstimmgebung**
*[Single Transferable Vote (STV)](https://en.wikipedia.org/wiki/Single_transferable_vote)* |
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index 00000000..e69de29b
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+++ "b/content/Wahlsysteme/\303\234bertragbare Einzelstimmgebung.md"
@@ -0,0 +1,5 @@
+Auch Single Transferable Vote genannt.
+
+Bei dieser Sonderform der [[Präferenzwahl]] werden mehrere Sieger pro Wahlkreis ermittelt, was ein wesentlicher Unterschied zu deutschen Wahlkreisen ist, wo es nur einen Sieger gibt. Aufgrund der Tatsache, dass es mehrere Sieger pro Wahlkreis gibt, ist der angewendete Algorithmus zur Aggregation der Stimmen komplizierter als bspw. bei der Integrierten Stichwahl.
+
+Siehe [Wikipedia](https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cbertragbare_Einzelstimmgebung) für weiterführende Infos.
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--- a/content/index.md
+++ b/content/index.md
@@ -1,7 +1,212 @@
---
-title: Welcome to Quartz
+title: Ersatzstimme
---
+###### Mark Rothermel - Version 2.1
+Diese Infopage bündelt alle wichtigen Informationen rund um das Wahlsystem der Ersatzstimme.
+## Zusammenfassung
+Das aktuelle deutsche Wahlsystem leidet unter einigen Schwächen. Durch die 5%-Hürde gehen regelmäßig große Mengen Stimmen verloren (rund 4 Mio bei der BTW 2021 und 22,3% bei der LTW im Saarland 2022). Der Stimmenverlust beeinträchtigt die Erfolgswertgleichheit der Stimmen und schwächt die Legitimität des Wahlergebnisses. Außerdem ruft das System Wählerdilemmas hervor, die zum taktischen Wahlverhalten zwingen, besonders bei Mehrheitswahlen.
-This is a blank Quartz installation for the **Ersatzstimme**!
+Eine in der Wissenschaft vielfach diskutierte und empfohlene ([Decker, 2016](https://www.jstor.org/stable/43977129); [Jesse, 2016](https://www.jstor.org/stable/26428892)), jedoch in der Politik bisher begrenzt beleuchtete Lösung ist die Einführung der **Ersatzstimme**. Die Ersatzstimme ist eine freiwillige zweite Stimme, mit der der Wähler eine zweite Präferenz angeben kann, die dann zählt, wenn seine eigentliche Stimme, die sogenannte “Hauptstimme”, unwirksam geworden ist, bspw. aufgrund einer Sperrklausel oder weil der Kandidat keine Mehrheit erhalten hat. Die Ersatzstimme fungiert virtuell wie ein zweiter Wahlgang. Sie mildert nicht nur die o.g. negativen Effekte von Sperrklauseln deutlich ([Dilger, 2021](https://www.wiwi.uni-muenster.de/io/de/forschen/downloads/DP-IO_07_2021); [BVerfG Leitsatz, 2017](https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/09/cs20170919_2bvc004614.html); [Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=FUAv4sZ5hB4emHES&t=586)), sondern bringt zahlreiche weitere Vorteile mit sich. Dazu zählen eine erhöhte Partizipativität (Ausdrucksfähigkeit des Wählerwillens, [Hellmann, 2016](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2016-2-389/weg-vom-pfadabhaengigkeitsproblem-praeferenzwahl-in-mehrpersonenwahlkreisen-als-reformoption-des-bundeswahlrechts-jahrgang-47-2016-heft-2?page=1)), Depolarisierung, Integrierung der Stichwahl in einen einzigen Wahlgang, höhere Wahlbeteiligung, u.a.
-See the [documentation](https://quartz.jzhao.xyz) for how to get started.
+Allerdings ist die Wahl mit Ersatzstimme komplizierter als die Wahl mit einer Stimme, was die Anzahl ungültiger Stimmen steigern kann. Zudem erfordert die Auszählung mehr Aufwand und die Ergebnisse sind schwieriger nachzuvollziehen. Es besteht auch die Möglichkeit, dass mehr kleine Parteien die 5%-Hürde schaffen könnten, da Wähler aufgrund des beseitigten Verlustrisikos der Hauptstimme eher dazu bereit sind, sie zu wählen. Dies könnte zu mehr Parteien in Koalitionen führen. Außerdem ist das Konzept der Ersatzstimme relativ unbekannt, weshalb eine Umgewöhnung der Bevölkerung nötig werde. Während bisherige Gutachten die Verfassungsmäßigkeit der Ersatzstimme nicht abschließend bestimmten, betrachtet die rechtswissenschaftliche Literatur die Ersatzstimme "vielfach als verfassungskonform" ([Wiss. Dienst d. BT, 2022](https://www.bundestag.de/resource/blob/916908/b6b6d93b8c360555df03d65038f7c630/WD-3-117-22-pdf.pdf)). Zwar könnten die Grundsätze der Unmittelbarkeit sowie der Gleichheit der Wahl berührt sein, was sich jedoch ggf. mit der Milderung der Sperrklauseleffekte rechtfertigen ließe. Das BVerfG sah 2017 keine Pflicht des Gesetzgebers, die Ersatzstimme einzuführen ([BVerfG Leitsatz, 2017](https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/09/cs20170919_2bvc004614.html)). Das neuliche Urteil des BVerfG zur Wahlrechtsreform der Ampel ([BVerfG-Pressemitteilung, 2024](https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2024/bvg24-064.html)) hielt fest, dass die 5%-Sperrklausel in ihrer reinen Form (ohne Grundmandatsklausel) zu stark in die Wahlgleichheit eingreifen würde. Das BVerfG ruft explizit zur Reform der Sperrklausel auf.
+
+In Deutschland sind aktuell keine öffentlichen Wahlen mit Ersatzstimme implementiert. Initiativen zur Einführung wurden 2012 in Schleswig-Holstein sowie 2015 im Saarland, in beiden Fällen von den Piraten, unternommen, fanden jedoch keine Mehrheit. 2022 wurde die Ersatzstimme im Rahmen der Bundestagswahlreform als Lösung zur Vermeidung verwaister Wahlkreise diskutiert, jedoch nicht umgesetzt.
+
+Die Ersatzstimme ist der einfachste Spezialfall der sogenannten Präferenzwahl, bei der es zusätzlich zur Ersatzstimme beliebig weitere Nebenstimmen gibt, die wie eine Rangfolge fungieren. Obwohl die Präferenzwahl komplizierter ist als die Ersatzstimme, wurden seit 2000 in den USA rund 50 Regionen und Städten die Präferenzwahl implementiert ([FairVote](https://fairvote.org/our-reforms/ranked-choice-voting-information/#where-is-ranked-choice-voting-used)). Umfragen zeigen, dass Wähler das System gut verstehen und bevorzugen. In Ländern wie Irland, Australien und Malta wird die Präferenzwahl seit einem Jahrhundert in spezieller Form für Parlamentswahlen genutzt.
+
+Die positiven Effekte, die Empfehlungen aus der Wissenschaft und die internationalen Erfahrungen sprechen dafür, dass die Ersatzstimme eine vielversprechende Reformoption für Deutschland sein könnte.
+## Motivation: Deutschlands Wahlsystem ist kaputt
+[TODO]
+## Hintergrund
+### Was ist die Ersatzstimme?
+Eine *Ersatzstimme* ist eine zusätzliche Stimme, mit der der Wähler eine zweite Präferenz angeben kann. Die Ersatzstimme (auch Alternativstimme oder Eventualstimme) genannt, zählt nur dann, wenn die eigentliche Stimme (die *Hauptstimme*) scheiterte, etwa an einer 5%-Hürde.
+
+Die Stimme für die erste Präferenz wird auch als *Hauptstimme* bezeichnet. Mit "Ersatzstimme" ist je nach Kontext die Wählerstimme oder das Wahlsystem gemeint. Das System der Ersatzstimme ist der einfachste Spezialfall der [[Präferenzwahl]].
+### Musterstimmzettel
+Die Bundestagswahl 2021 hätte mit Ersatzstimme auf dem Stimmzettel so aussehen können (hier "Wahlkreisstimme" statt "Erststimme" und "Listenstimme" statt "Zweitstimme", um mögliche Verwechslungen zu vermeiden).
+![[Musterstimmzettel Ersatzstimme.png]]
+### Aggregationsverfahren: Integrierte Stichwahl
+Es gibt mehrere Möglichkeiten, die abgegebenen Stimmen in die Verteilung der Mandate zu übersetzen. Diese Verfahren werden als *Aggregationsverfahren* (oder Auszählungsverfahren) bezeichnet. Von ihnen hängt das genaue Resultat ab.
+
+Ein geeignetes Aggregationsverfahren ist das der **[Integrierten Stichwahl](https://de.wikipedia.org/wiki/Integrierte_Stichwahl)** (engl. *Instant-Runoff Voting*, s. auch [Dilger (2021)](https://www.wiwi.uni-muenster.de/io/de/forschen/downloads/DP-IO_07_2021) ). Bei diesem iterativen Verfahren werden im ersten Schritt nur die Hauptstimmen auf alle Optionen verteilt. Hat (im Falle einer Mehrheitswahl) kein Kandidat die nötige Mehrheit oder unterliegt (im Falle einer Verhältniswahl) eine Partei einer Sperrklausel, so wird die Option mit den wenigsten Hauptstimmen eliminiert und ihre Stimmen gemäß der Ersatzstimmen auf die übrigen Optionen übertragen. Dieser Schritt der Eliminierung wird solange mit der jeweils stimmschwächsten Option wiederholt bis (im Fall der Mehrheitswahl) ein Sieger feststeht bzw. (im Fall der Verhältniswahl) keine Partei mehr einer Sperrklausel unterliegt.
+### Variationen
+#### Einstufige Übertragung
+Oben wurde die mehrstufige Aggregation beschrieben. Diese kann stattdessen einstufig erfolgen, indem alle Optionen unterhalb der Sperrklausel bzw. alle Kandidaten bis auf die besten zwei auf einmal eliminiert werden. Dieses Verfahren hat die Vorteile, dass es einfacher ist und paradoxe Spezialsituation vermeidet, in der es vorteilhaft sein kann, eine verhasste Option zu wählen.
+### Eingeschränkte Übertragung
+In dieser Variante könnte es Parteien bzw. Kandidaten gestattet werden, zu bestimmen, welche anderen Parteien bzw. Kandidaten nach ihnen als Ersatz erlaubt sind. Ein OB-Kandidat der SPD könnte bspw. bestimmen, dass im Falle seines Ausscheidens seine Stimmen an alle außer den AfD-Kandidaten übertragen werden dürften.
+
+Diese Variante ist wahrscheinlich nicht ohne Anpassung des Grundgesetzes möglich, weil die Partei bzw. der Kandidat die Wahlfreiheit des Wählers einschränkt (Verletzung der Bedingungslosigkeit der Wahl).
+### Festgelegte Übertragung
+Bei dieser Variante gibt es de facto keine Ersatzstimmen, sondern die Parteien bzw. Kandidaten bestimmen, an wen ihre Stimmen im Falle des Ausscheidens übertragen werden sollen. Im allgemeinsten Fall können Parteien frei wählen, wie ihre Stimmen anteilig an die übrigen Parteien übertragen werden sollen.
+
+Diese Variante ist wahrscheinlich nicht ohne Anpassung des Grundgesetzes möglich, weil die Partei bzw. der Kandidat über die Stimme des Wählers entscheidet (Verletzung der Unmittelbarkeit der Wahl).
+## Vorteile der Ersatzstimme
+
+> [!check]- 1. Weniger unberücksichtigte Stimmen
+> ([Dilger, 2021](https://www.wiwi.uni-muenster.de/io/de/forschen/downloads/DP-IO_07_2021); [Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)): Sperrklauseln, wie die 5%-Hürde, führen zu unwirksamen Stimmen. So wurden bei der Bundestagswahl 2021 rund 4 Mio. bzw. 8,6% der Stimmen nicht berücksichtigt, bei der Landtagswahl 2022 im Saarland sogar 22,3%. Mit einer Ersatzstimme wird es von vorneherein unwahrscheinlicher, dass der Wähler seine Stimme komplett verliert. Eine Studie ([Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)) mit knapp 900 Wählern zeigte sogar, dass der Wähler explizit die Ersatzstimme dafür einsetzt, um berücksichtigt zu bleiben, indem er die Stimme einer etablierten Partei gibt. Die Zahl unberücksichtigter Stimmen hat sich seit den 70er Jahren im Mittel deutlich erhöht: ![[Pasted image 20240805000147.png]]
+ Grafik entnommen von [wahlreform.de](https://www.wahlreform.de/unberuecksichtigt.pdf).
+
+> [!check]- 2. Bessere Erfolgswertgleichheit
+> Der Stimmenwegfall durch die 5%-Hürde ist ein Eingriff in den Grundsatz der Wahlgleichheit. Ersatzstimmen würden diesen Eingriff vermindern ([BVerfG Leitsatz, 2017](https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/09/cs20170919_2bvc004614.html)), weil mehr Stimmen berücksichtigt werden. Dadurch wird die **Gleichheit des [Erfolgswerts](https://de.wikipedia.org/wiki/Erfolgswert)** der Stimmabgabe verbessert. Wähler haben also ähnlichere Chancen, die Zusammensetzung des Gremiums zu beeinflussen, als im jetzigen System.
+
+> [!check]- 3. Erhöhte Partizipativität
+> Wähler können mithilfe der Ersatzstimme ihren Wählerwillens präziser ausdrücken ([Hellmann, 2016](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2016-2-389/weg-vom-pfadabhaengigkeitsproblem-praeferenzwahl-in-mehrpersonenwahlkreisen-als-reformoption-des-bundeswahlrechts-jahrgang-47-2016-heft-2?page=1)). Haupt- und Ersatzstimme transportieren gemeinsam mehr Information als eine einzelne Stimme. Infolge der erhöhten Ausdrucksfähigkeit spiegelt das Gesamtwahlergebnis den Willen der Wähler besser wider. [TODO: Effekt besonders groß, wenn die Zahl der Optionen groß.]
+
+> [!check]- 4. Reduktion taktischen Wahlverhaltens
+> ([Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)): Taktisches Wählen tritt dann auf, wenn der Wähler die Stimme einer Option vergibt, die nicht seiner Erstpräferenz entspricht. Das ist besonders dann der Fall, wenn der Wähler seine Stimme von Verlust bedroht sieht, wie es bei Kleinparteien im Kontext der der 5%-Hürde oder bei eher aussichtslosen Kandidaten der Fall ist. Die Ersatzstimme kompensiert den Verlust der Hauptstimme. So kann der Wähler mit der Hauptstimme seine tatsächliche Erstpräferenz wählen, ohne ein Risiko einzugehen, da die Stimme im Fall des Verlusts der Hauptstimme Dank der Ersatzstimme nicht verloren ist. Die Ersatzstimme schafft den psychologischen Druck der 5%-Hürde ab. Taktisches Wahlverhalten wird von der Haupt- auf die Ersatzstimme verlagert, wodurch das Wahlergebnis weniger durch taktische Stimmabgabe verzerrt wird. Die Verteilung der Hauptstimmen spiegelt die tatsächliche Wählerpräferenz wider ([Decker, 2016](https://www.jstor.org/stable/43977129)) und ist so für die Parteienfinanzierung deutlich besser geeignet als im Fall ohne die Ersatzstimme. Die Ersatzstimme vermindert außerdem den **Spoiler-Effekt** ([Veritasium, 2024](https://www.youtube.com/watch?v=qf7ws2DF-zk&t=330s)), bei welchem der Wähler durch die Wahl eines aussichtsschwachen Kandidaten den Sieg seines zweitliebsten, aber aussichtsreichen Kandidaten ungewollt verhindert.
+
+> [!check]- 5. Reduktion von taktischem Kandidaturverzicht
+> 5. Im jetzigen Wahlsystem würden sich ähnliche Kandidaten gegenseitig die Stimmen rauben und so dafür sorgen, dass sie am Ende beide erfolglos sind. Bei Parteien "bedeutet jeder Wahlantritt einer Unter-5-Prozent-Partei, dass sie dem politischen Lager, in dem diese Partei beheimatet ist, Stimmen wegnimmt und "vernichtet"." ([Institut für Wahlrechtsreform](http://www.dualwahl.de/)) Taktisch ist es daher klüger, wenn nur einer von beiden Kandidaten antritt. Durch diesen Anreiz wird die Anzahl der Wahloptionen künstlich gesenkt. Mit einer Ersatzstimme können ähnlich profilierte Kandidaten antreten, ohne gegenseitig die Erfolgsaussichten zu sehr zu verschlechtern.
+
+> [!check]- 6. Bessere Akzeptanz von Wahlsiegern
+> Gewinnen würde bei einer Mehrheitswahl mit Ersatzstimme fortan nicht mehr der Kandidat mit einer einfachen Mehrheit der Hauptstimmen, sondern der Kandidat mit dem meisten *Rückhalt* (die Summe aus seinen Hauptstimmen und den Ersatzstimmen von eliminierten Kandidaten). Dies ist der Kandidat, der für die meisten Wähler der Lieblingskandidat oder ein Kompromisskandidat ist, was in der Regel seltener ein Extremkandidat am Rande des politischen Spektrums ist. Es würde also nicht mehr genügen, bloß die größte Minderheit für sich zu gewinnen, sondern der Kandidat müsste auch als echte Alternative für eine hinreichende Menge an Wählern in Frage kommen. Folglich ist zu erwarten, dass das System Sieger hervorbringen würden, die im Mittel besser akzeptiert sind und das Repräsentationsgefühl der Bürger steigern ([Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)).
+ Letzte BTW nur 1 absoluter Gewinner. Durchschnitt 33%. In Dresden 18,6% letzte BTW: https://www.bundeswahlleiterin.de/dam/jcr/712b8bc4-cfa5-4156-ac0d-9a5c79d788bb/w-btw21_arbtab3.pdf
+
+> [!check]- 7. Bessere Legitimation von Wahlsiegern
+> Weil auch in absoluten Zahlen mehr Stimmen im Gesamtergebnis Berücksichtigung finden werden, ergibt sich eine verbesserte Legitimation ([Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=FUAv4sZ5hB4emHES&t=586)). Wegen der erhöhten Partizipativität (s.o.) und der reduzierten taktischen Stimmabgabe lässt sich der Wählerwille in ein akkurateres Wahlergebnis überführen, wodurch Wahlsieger ebenfalls besser legitimiert sind als im herkömmlichen System.
+
+> [!check]- 8. Integrierung von Stichwahlen
+> Die Ersatzstimme fungiert gedanklich wie ein zweiter Wahlgang. Gesonderte Stichwahlen werden dadurch überflüssig, wodurch ein zweiter Wahlgang, Wahlkampf und Wahldurchführungskosten gespart werden, ohne den Wähler in der Mitteilung seines Wählerwillens einzuschränken ([Benken, 2023](https://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/pdf/2024/Folien-Benken-Wahlrechtstagung-2023-Bestensee-v1a.pdf)). Weil die Wähler ihre Stichwahlstimme bereits im ersten Wahlgang mithilfe der Ersatzstimme abgeben können und nicht extra ein zweites Mal wählen gehen müssen, wird so ein Ergebnis mit geringer Wahlbeteiligung vermieden ([Kimball, 2016](https://www.umsl.edu/~kimballd/KimballRCV.pdf)). Gewinnen wird die Person mit dem meisten Rückhalt: Das kann auch die sein, die gemäß Hauptstimmenverteilung auf Platz 3 oder 4 landete, bei einer klassischen Stichwahl also ausgeschieden wäre.
+
+> [!check]- 9. Depolarisierung
+> Jeder Kandidat muss nicht nur um Hauptstimmen, sondern auch um Ersatzstimmen werben. Dies gelingt nur, indem er sich in die Gunst der Wähler der anderen Lager begibt. Negative Campaigning, Hardlinertum oder Polarisierung werden kontraproduktiv, weil der Kandidat so die Wähler anderer Lager verschrecken würde. Der Kandidat wird also zu einem gemäßigteren Umgang und zu einer differenzierteren Debatte angereizt. Dieser Effekt würde bei Mehrheitswahlen besonders stark sein, da es bei der Mehrheitswahl nur einen Sieger geben kann. 2013 konnte dieser Effekt bei der Bürgermeisterwahl in Minneapolis besonders gut beobachtet werden ([Veritasium, 2024](https://www.youtube.com/watch?v=qf7ws2DF-zk&t=330s)): Trotz der schieren Zahl an 35 Bürgermeisterkandidaten verlief der Wahlkampf äußerst harmonisch und konstruktiv, weil sich die Kandidaten aufgrund des Anreizes der Ersatzstimmenwerbung nicht anfeindeten. In einem System ohne Ersatzstimmen wäre Polarisierung und Populismus eine vermutlich erfolgreiche Strategie gewesen.
+
+> [!check]- 10. Höhere Wahlbeteiligung
+> ([Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=FUAv4sZ5hB4emHES&t=586)): Weil Wähler mehr Erfolgschancen in ihrer Stimme erkennen, würden sie eher den Versuch unternehmen, Einfluss auf das Wahlergebnis auszuüben.
+
+> [!check]- 11. Mehrheitskonsistenz
+> Im aktuellen System kann es zur Mehrheitsumkehr kommen, also dass ein politisches Lager, das die Mehrheit der Stimmen erhalten hat, nicht die Mehrheit der Mandate erhält, weil ein kleinerer Koalitionspartner an der Hürde scheiterte ([Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=FUAv4sZ5hB4emHES&t=586); [Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)). Das führte bei der Bundestagswahl 2013 zu einer bürgerlich-rechten Mehrheit nach Stimmen, aber einer linken Mehrheit nach Mandaten. Die Ersatzstimme würde das Risiko einer Mehrheitsumkehr mildern.
+
+> [!check]- 12. Geringere Eintrittsschwelle für Newcomer
+> Selbst mit unveränderter Sperrklausel steigt die Wahrscheinlichkeit für den Einzug neuer Parteien oder den Sieg neuer Kandidaten, weil sie deutlich weniger unter taktischem Wahlverhalten leiden.
+
+> [!check]- 13. Unverfälschte Stimmenstatistik
+> ([Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)): Die Verteilung der Hauptstimmen spiegelt die tatsächliche Favorisierung der Wähler wider und würde so eine Statistik liefern, die akkurater ist als jede andere bisher zur Verfügung stehende Statistik der Wählergunst. Dadurch eignet sich die Verteilung der Hauptstimmen besonders als Grundlage für die Ermittlung der Zuschüsse für die Parteien.
+
+> [!check]- 14. Erhalt der 5%-Hürde
+> Mit der Ersatzstimme könnte ein System geschaffen werden, in welchem die 5%-Hürde auch ohne Grundmandatsklausel verfassungskonform ist, ohne dabei am Konzentrationseffekt der Sperrklausel einzubüßen ([Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)).
+## Nachteile der Ersatzstimme
+
+> [!failure]- 1. Erhöhte Komplexität
+> Umfragen zufolge können schon im aktuellen Wahlsystem nur 28% der deutschen Wahlberechtigten Erst- und Zweitstimme richtig zuordnen ([pollytix](https://pollytix.de/pollytix-umfrage-offenbart-wissensluecken-zum-wahlsystem/)). Eine zusätzliche Stimme könnte den Wähler weiter überfordern. Bei der Ersatzstimme ist sich die Literatur uneinig, ob die Komplexitätszunahme die Schwelle zur fehlenden Normenklarheit überschreitet ([Wiss. Dienst d. BT, 2022](https://www.bundestag.de/resource/blob/916908/b6b6d93b8c360555df03d65038f7c630/WD-3-117-22-pdf.pdf)). Eine Wahlrechtsreform sollte auch die Ursachen für das schlechte Verständnis von Erst- und Zweitstimme beheben.
+
+> [!failure]- 2. Ungewohntheit
+> Die Ersatzstimme ist ein noch in der Öffentlichkeit recht unbekanntes System. Dieser psychologische Nachteil lässt sich jedoch überwinden, da ein Gewöhnungseffekt einsetzen würde ([Jesse, 1985](https://academic.oup.com/ahr/article-abstract/91/3/693/48292?redirectedFrom=fulltext), [Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)).
+
+> [!failure]- 3. Erhöhtes Risiko ungültiger Stimmen
+> Der Wahlzettel bietet dem Wähler mehr Freiheitsgrade und damit auch mehr Möglichkeiten, beim Ausfüllen Fehler zu begehen. Bisherige Praxiserfahrungen zeigen aber, dass die Fehlerrate selbst im deutlich komplizierteren Fall der Präferenzwahl weiterhin gering ist ([Institute for Mathematics and Democracy, 2024](https://mathematics-democracy-institute.org/deficiencies-in-recent-research-on-ranked-choice-voting-ballot-error-rates/)), so betrug der Anteil ungültiger Stimmzettel bei der Bürgermeisterwahl in San Francisco 2005 nur 0,4% ([New America Foundation & FairVote, 2008](https://archive.fairvote.org/media/irv/irvracememo.pdf)), unabhängig davon ob die Wähler das System vorher bereits kannten oder nicht. Zum Vergleich: Die Zahl ungültiger Stimmen bei der BTW 2021 betrug rund 1% ([Wikipedia](https://de.wikipedia.org/wiki/Bundestagswahl_2021?wprov=sfla1)).
+
+> [!failure]- 4. Anspruchsvollere Nachvollziehbarkeit
+> Die Aggregation (Übersetzung von Stimmverteilung in Mandatsverteilung) ist bei der Ersatzstimme komplexer als im bisherigen System. Während bisher ein einfaches Balkendiagramm zur Visualisierung der Ergebnisse genügte, benötigt man bei der Ersatzstimme eine andere Darstellungsform. Möglich ist ein gestapeltes Balkendiagramm aus Haupt- und aktivierten Ersatzstimmen (s. [Beispiel](https://en.wikipedia.org/wiki/Instant-runoff_voting#2009_Burlington_mayoral_election)). Für die Visualisierung der Übertragung der Ersatzstimmen während der Aggregation kommen ein [Sankey-Diagramm](https://www.rcvis.com/v/va-gop-gov#sankey) (s. auch [hier](https://www.electoral-reform.org.uk/voting-systems/types-of-voting-system/supplementary-vote/)) oder ein [iterativ animiertes Balkendiagramm](https://www.rcvis.com/v/va-gop-gov) in Frage.
+
+> [!failure]- 5. Potenziell mehr Parteien in Koalitionen
+> Das bisherige Wahlsystem ermutigt Wähler, aus taktischen Gründen aussichtsreiche Wahloptionen zu wählen, um das Risiko des Stimmverlusts zu reduzieren. Dieser Anreiz entfällt im System der Ersatzstimme für die Hauptstimme. Dadurch steigt der Hauptstimmenanteil für kleine Parteien ([Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)), was die Überwindungswahrscheinlichkeit der Sperrklausel für kleine Parteien erhöht. Infolgedessen könnte sich die Zahl der Parteien im Parlament und damit auch in Koalitionen (trotz gleichbleibender Sperrklausel) vergrößern.
+
+> [!failure]- 6. Erhöhter Auszählungsaufwand
+> Die Einführung der Ersatzstimme erhöht die Anzahl auszuwertender Stimmen um den Anteil, der auch Gebrauch von der Ersatzstimme gemacht hat. Es wird geschätzt, dass im Fall der Zweitstimme nur 20% der Wähler Gebrauch von der Ersatzstimme machen werden, wodurch der erhöhte Auszählungsaufwand überschaubar wäre. Bei der Erststimme könnten es mehr sein.
+
+> [!failure]- 7. In der Theorie nicht perfekt
+> In der Sozialwahltheorie gibt es eine Reihe von [Kriterien](https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialwahltheorie#Qualit%C3%A4tskriterien) zur Beurteilung von Wahlsystemen. Wünschenswerte Wahlsysteme erfüllen möglichst viele Kriterien. Die Ersatzstimme erfüllt mehrere Kriterien nicht, z.B. verletzt sie das [Condorcet-Kriterium](https://de.wikipedia.org/wiki/Condorcet-Methode#Condorcet-Kriterium). Allerdings können ohnehin schon in der Theorie nicht alle Kriterien auf einmal erfüllt werden ([Wikipedia](https://de.wikipedia.org/wiki/Integrierte_Stichwahl#Eigenschaften:_Kriterien)), siehe auch [Arrow-Theorem](https://de.wikipedia.org/wiki/Arrow-Theorem). In der Tat gibt es kein Wahlsystem, das "perfekt" ist ([Hellmann, 2016](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2016-2-389/weg-vom-pfadabhaengigkeitsproblem-praeferenzwahl-in-mehrpersonenwahlkreisen-als-reformoption-des-bundeswahlrechts-jahrgang-47-2016-heft-2?page=1)). Der Anspruch einer Wahlrechtsreform muss jedoch nicht sein, perfekt zu sein, sondern das jetzige Wahlsystem in wesentlichen Punkten zu verbessern.
+
+## Offene Fragen
+> [!question]- 1. Ungeklärte Verfassungskonformität
+> Wenngleich die Rechtswissenschaft den Fall der Ersatzstimme "vielfach als verfassungskonform betrachtet" ([Wiss. Dienst d. BT, 2022](https://www.bundestag.de/resource/blob/916908/b6b6d93b8c360555df03d65038f7c630/WD-3-117-22-pdf.pdf)), sind bisherige Gutachten hier unentschieden ([Wiss. Dienst d. LT von Schleswig-Holstein, 2015](https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&url=https://www.landtag.ltsh.de/infothek/wahl18/umdrucke/5400/umdruck-18-5441.pdf&ved=2ahUKEwi90828hKSHAxW88rsIHY_ZCYEQFnoECBgQAQ&usg=AOvVaw1HwEdR1FjxVEI5OOOF8WeZ), [Wiss. Dienst d. BT, 2022](https://www.bundestag.de/resource/blob/916908/b6b6d93b8c360555df03d65038f7c630/WD-3-117-22-pdf.pdf)).
+## Besonderheiten und mögliche weitere Effekte der Ersatzstimme
+- **Stärkung der politischen Mitte** ([Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=FUAv4sZ5hB4emHES&t=586)): Um im jetzigen Mehrheitswahlsystem zu siegen, genügt es bereits, die größte Minderheit hinter sich zu haben. Dabei sind die übrigen Präferenzen der anderen Minderheiten völlig unerheblich. Dies kann zum Sieg von Extremkandidaten führen, die in der Mehrheit der Bevölkerung keine Akzeptanz finden und in jedem paarweisen Vergleich mit den Kontrahenten unterlegen wären. Bei der Ersatzstimme aber kommt es nicht nur darauf an, der Favorit für eine möglichst großen Zahl an Wählern zu sein, sondern auch als zweitbeste Alternative für möglichst viele andere in Frage zu kommen. Diesen Rückhalt genießen in der Regel Kandidaten der Mitte mehr, da sie mehr Potenzial für Konsens bieten. Entsprechend würde die Ersatzstimme den Sieg von Extremkandidaten unwahrscheinlicher machen. Dies ist keine Bevorzugung von Mitte-Kandidaten in dem Sinne, dass sie einen unfairen Vorteil erhielten, sondern weil dies dem Wählerwillen besser entspricht.
+- **Mehr Aufmerksamkeit für kleine Parteien**: Weil auch Kleinparteien eine ernsthafte Wahloption darstellen ([Graeb & Vetter, 2018](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-1758-2018-3-552.pdf)), könnten sich im Vorfeld der Wahl die Wähler womöglich mehr mit ihnen auseinandersetzen. Außerdem wollen die großen Parteien die Ersatzstimmen der kleinen Parteien erhalten, wodurch ein Anreiz entsteht, dass die großen Parteien die Wünsche von Kleinpartei-Wählern adressieren ([Institut für Wahlreform](http://www.dualwahl.de/)).
+- Auf diese Weise können **große Parteien neue Wählerschichten erschließen** ([Benken, 2022](https://youtu.be/qWGRzvMwxSE?si=FUAv4sZ5hB4emHES&t=586)), indem sie nämlich Ersatzstimmen von Wählern erhalten, sie nur Kleinparteien wählen, aber ihre Ersatzstimme zur Absicherung nutzen. Dieser Effekt erhöht auch den **Zusammenhalt** in der Gesellschaft. Kleinpartei-Wähler bekommen das Gefühl, mit ihrer politischen Meinung am Ende doch noch ernst genommen zu werden. So kann die Ersatzstimme die **Identifikation** mit dem System der repräsentativen Demokratie erhöhen ([Institut für Wahlreform](http://www.dualwahl.de/)).
+- **Die Ersatzstimme zieht die negativen Eigenschaften der Hauptstimme auf sich**. Das betrifft insbesondere Wählerdilemmas, die zum taktischen Wählen zwingen. Die Hauptstimme kann gänzlich gemäß der Vorliebe des Wählers vergeben werden.
+- Neueinsteiger im Bundestag waren bei den letzten Malen immer extreme Parteien (AfD und BSW). Eine Ersatzstimme könnte für Newcomer aus der Mitte verhelfen.
+## Ersatzstimmen und Präferenzwahlen in anderen Ländern
+Als einzige Region der Welt, in der die Ersatzstimme in der hier beleuchteten Form genutzt wurde, war Großbritannien, was die Ersatzstimme jedoch 2022 wieder abschaffte. Gegenwärtig ist kein öffentliches Wahlsystem auf der Welt bekannt, das die Ersatzstimme nutzt. Allerdings existieren zahlreiche Regionen, die das deutlich komplexere System der [[Präferenzwahl]] anwenden, welches eine Verallgemeinerung der Ersatzstimme ist.
+
+Folgende Länder und Regionen haben die Ersatzstimme oder die Präferenzwahl implementiert (klicke auf den Ländernamen für eine detaillierte Zusammenfassung der dortigen Situation).
+
+| Region | Amt/Gremium | Wahlsystem | Aggregation | Eingeführt |
+| ---------------------------- | --------------------------------- | -------------------------------------------------------------- | ----------- | ----------- |
+| Queensland | Legislative Assembly | [[Integrierte Stichwahl]] | einstufig | 1892 - 1942 |
+| Irland | Parlament | [[Übertragbare Einzelstimmgebung]] | mehrstufig | 1921 |
+| Malta | Parlament | [[Übertragbare Einzelstimmgebung]] | mehrstufig | 1921 |
+| Irland | Präsident | [[Integrierte Stichwahl]] | mehrstufig | 1938 |
+| [[Australien]] | Parlament | [[Übertragbare Einzelstimmgebung]] | mehrstufig | 1948 |
+| Ski Lanka | Präsident | [[Integrierte Stichwahl]] | einstufig | 1978 |
+| Indien | Präsident | [[Integrierte Stichwahl]] | mehrstufig | ? |
+| [[Großbritannien]] | Bürgermeister | **Ersatzstimme** | einstufig | 2000 - 2022 |
+| [[USA\|Regionen in den USA]] | Bürgermeister & Parlamente | [[Präferenzwahl]] | mehrstufig | 2000 |
+| Papua Neuginea | Parlament | [[Präferenzwahl]] bis Rang 3 | mehrstufig | 2003 |
+| Neuseeland | Lokale Parlamente & Bürgermeister | [[Integrierte Stichwahl]] & [[Übertragbare Einzelstimmgebung]] | mehrstufig | 2004 |
+Für weitere Beispiele, siehe [Wikipedia](https://en.wikipedia.org/wiki/History_and_use_of_instant-runoff_voting).
+## Ersatzstimmeninitiativen in Deutschland
+In Deutschland gab es bereits in zwei Landtagen ([[Schleswig-Holstein 2012 - 2016]] und [[Saarland 2015]]) den Versuch, die Ersatzstimme auf politischem Wege einzuführen. Beide Initiativen scheiterten. Im Zuge der [[Bundestagswahlrechtsreform 2022|Bundestagswahlrechtsreform von 2022]] wurde die Ersatzstimme kurzzeitig für die sehr spezielle Situation von Wahlkreissiegern mit fehlender Zweitstimmendeckung diskutiert, jedoch verworfen. [[Brandenburg 2024|Aktuell wird in Brandenburg]] die Einführung der [[Integrierte Stichwahl|Integrierten Stichwahl]] debattiert.
+
+2011 versuchte ein Bürger per öffentlicher Petition die Einbringung der Ersatzstimme in den Bundestag. "In der achtwöchigen Mitzeichnungsfrist hatten sich nicht einmal 400 Unterstützer gefunden. Der Bundestag lehnte den Vorstoß im April 2011 ab." ([SHZ](https://web.archive.org/web/20220601063826/https://www.shz.de/lokales/kiel/artikel/ersatzstimme-bei-landtagswahlen-spd-will-piraten-vorschlag-ueberdenken-41523481))"
+
+Mehr Demokratie e.V. setzt sich für diverse demokratiefördernde Reformen ein, darunter für die Ersatzstimme, s. bspw. ihren [Bericht](https://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/pdf/2022/2022-11-14_Ersatzstimmentagung-Zusammenfassung-Benken-v3.pdf) und [Aufzeichnung](https://www.youtube.com/watch?v=jNwZ3PIP6J0&list=PLRLt57BRPAiIj0Z_8gVQia_E2nxaP_Jhp) ihrer "InitiativTagung" zur Ersatzstimme oder ihre [Online-Petition](https://www.mehr-demokratie.de/mehr-bewegen/kampagnen/rettet-die-stimmen). Konkret unternahm Mehr Demokratie e.V. den Versuch, die Ersatzstimme in Berlin einzuführen. "Die Innenbehörde des Senats erklärte den Vorstoß \[...\] für rechtlich nicht zulässig; die Ersatzstimme verstoße gegen den Grundsatz der „Unmittelbarkeit der Wahl“." ([SHZ](https://web.archive.org/web/20220601063826/https://www.shz.de/lokales/kiel/artikel/ersatzstimme-bei-landtagswahlen-spd-will-piraten-vorschlag-ueberdenken-41523481))
+
+Eine [[Abstimmung21|Probeabstimmung]] auf Abstimmung21 ergab eine Unterstützung von 72% für die Ersatzstimme, wobei viele der übrigen Stimmabgaben Enthaltungen waren.
+## Juristische Gutachten & Literatur
+[[WD SH 2015]]
+[[BVerfG 2017]]
+[[WD BT 2022]]
+## Wissenschaftliche Paper
+[[Hellmann 2016]]
+[[Graeb 2018]]
+[[Dilger 2021]]
+## Gegenargumente & Mythen
+> [!question]- Die Ersatzstimme fördert taktisches Wählen
+> **Beispiel**: Es ist Bundestagswahl, die CDU liegt in den Umfragen vorn, die FDP nahe der 5%-Hürde. Ein CDU-Wähler hätte gerne die FDP als Koalitionspartner. Um ihr den Sprung über die Sperrklausel zu verhelfen, wählt der CDU-Wähler taktisch die FDP, denn er hat nichts zu verlieren: Entweder verhilft er der FDP wie gewünscht über die 5% oder seine Stimme geht an seine Lieblingspartei, die CDU.
+>
+> **Einordnung**: Dieses Phänomen ist nicht neu und nennt sich "Leihstimme". Leihstimmen waren schon in der Vergangenheit bereits ohne die Ersatzstimme vorgekommen, sogar im Rahmen von ganzen Kampagnen ([Zeit Online, 2013](https://www.zeit.de/politik/deutschland/2013-09/FDP-Leihstimme-Bundestagswahl-CDU)). Der Unterschied liegt im Risiko, den der Wähler mit seiner Leihstimme eingeht. Ohne die Ersatzstimme könnte die Leihstimme verloren sein, wenn die FDP die Hürde nicht schafft. Mit Ersatzstimme ist dieses Risiko weg.
+>
+> Warum das aber im Kontext der Ersatzstimme dennoch kein ausschlaggebendes Problem ist: [TODO]
+> 1. In wesentlich mehr Fällen wird taktisches Wählen mit der Hauptstimme reduziert.
+> 2. Die taktische Wahl im obigen Szenario ist nicht durch den möglichen Verlust der eigenen Stimme erzwungen, sondern freiwillig und dadurch weniger schlimm als erzwungenes taktisches Wählen.
+> 3. Das obige Szenario ist nicht selten, aber dennoch nicht der Regelfall, während andererseits regelmäßig Millionen von Kleinparteiwählern zur taktischen Wahl gezwungen werden.
+> 4. Wenn die FDP an der Sperrklausel scheitern sollte, dann gingen durch die Ersatzstimme 60% der FDP-Stimmen an die CDU. Dann hat die CDU am Ende vielleicht sogar mehr davon als von einer Koalition mit der FDP.
+
+> [!question]- Der Erfolgswert der Ersatzstimme ist bei den Parteien unterschiedlich => Verletzte Chancengleichheit
+> **Einordnung**: Unbelegt und bisher nicht beobachtet. Wahlstrategie der Wähler nicht vorhersehbar, daher ist dieser Einwand hinsichtlich Verfassungstreue nicht im Vorhinein einzuordnen. ([Protokoll Innen- & Rechtsausschuss Schleswig-Holstein](http://www.landtag.ltsh.de/export/sites/ltsh/infothek/wahl18/aussch/iur/niederschrift/2014/18-065_05-14.pdf#page=13)) Der Erfolgswert wäre außerdem nicht geringer im Vergleich zum Erfolgswert der aktuell implementierten Zweitstimme.
+
+> [!question]- Ein Wähler, dessen Ersatzstimme nicht zum Zuge kam, wird unfair benachteiligt
+> **Einordnung**: Unter der realistischen Annahme, dass der Wähler seine Hauptstimme an seine tatsächliche Erstpräferenz vergeben hat, kann vermutlich davon ausgegangen werden, dass die finale Wertung der Stimme (die wie bei anderen Wählern immer höchstens eine ist) im Sinne des Wählers ist.
+>
+> Gedanklich fungiert die Ersatzstimme ja wie ein zweiter Wahlgang. Wenn der Lieblingskandidat im zweiten Wahlgang wieder antritt, so würde der Wähler diesen (bei gleich bleibender Ausgangslage) wiederwählen.
+>
+> Die Ersatzstimme kompensiert lediglich den Wegfall der Hauptstimme. Sie ist eine Absicherung, die im Sinne des Wählers nur dann greifen soll, wenn die Hauptstimme verfiel.
+
+> [!question]- Die Ersatzstimme verdoppelt die Erfolgschancen eines Wählers
+> Tut sie nicht, da sie lediglich den Misserfolg der Hauptstimme kompensiert. "Im Ergebnis sind damit Zählwert und Erfolgschance der Ersatzstimmen und der dazugezählten \[... Hauptstimmen der Hauptstimme\] anderer Wähler formal gleich." ([Wiss. Dienst d. BT, 2022](https://www.bundestag.de/resource/blob/916908/b6b6d93b8c360555df03d65038f7c630/WD-3-117-22-pdf.pdf))
+
+> [!question]- Sieger kann nur der mit den meisten Hauptstimmen sein
+> **Einordnung**: Mit der Ersatzstimme verändert sich die Definition von "Mehrheit" insofern, dass der Mehrheitssieger nicht mehr derjenige ist, der lediglich die meisten Hauptstimmen auf sich vereinen konnte, sondern den meisten *Rückhalt* hat, also die größte Summe aus Haupt- und übertragenen Ersatzstimmen. Der Rückhalt wiegt schwerer als die bloßen Hauptstimmen, weil der Rückhalt den Wählerwillen besser repräsentiert. Deshalb ist ein Kandidat mit dem größten Rückhalt besser legitimiert als ein Kandidat mit den meisten Hauptstimmen.
+
+> [!question]- Das BVerfG hat doch schon geurteilt, dass die Ersatzstimme nicht verfassungskonform ist!
+> **Einordnung**: Das BVerfG stellte in seinem Urteil ([BVerfG Leitsatz, 2017](https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/09/cs20170919_2bvc004614.html)) keine Verfassungswidrigkeit der Ersatzstimme fest, sondern lediglich, dass es verfassungsrechtlich "nicht geboten" ist, die Ersatzstimme einzuführen. Das bedeutet, dass der Gesetzgeber nicht **verpflichtet** ist, die Ersatzstimme einzuführen (es jedoch könnte).
+
+> [!question]- Die Ersatzstimme stellt die Ernsthaftigkeit der Hauptstimme in Frage
+> **Behauptung**: Der Wähler könnte seine Hauptstimme im Sinne eines Freischusses vergeben, ohne dass damit die notwendige Ernsthaftigkeit verbunden wäre, die eine Wahlentscheidung erfordert, denn es würde ja immer noch eine weitere Stimme berücksichtigt.
+>
+> **Einordnung**: Die Behauptung ist unbegründet. Zunächst gilt, dass für jeden Wähler am Ende höchstens eine Stimme wirksam geworden ist, entweder die Hauptstimme oder die Ersatzstimme oder keine von beiden. Die Ersatzstimme kann nur dann wirksam werden, wenn die Hauptstimme unwirksam ist. Es ist nicht ersichtlich, weshalb der Wähler seine Hauptstimme wahllos oder ohne ernsthafte Erwägungen vergeben sollte, ganz besonders, weil die Hauptstimme die Stimme ist, die zuerst ausgewertet wird.
+
+> [!question]- Die Ersatzstimme stärkt einseitig größere Parteien
+> **Behauptung**: Da diese Ersatzstimme wahrscheinlich einer aussichtsreichen Partei gegeben wird, würden damit im Endeffekt die größeren Parteien gestärkt.
+>
+> **Einordnung**: Die Behauptung ist irreführend. Zwar ist in der Tat erwartbar, dass größere Parteien in absoluten Zahlen mehr Stimmen erhalten werden (da zu ihren Hauptstimmen zusätzlich Ersatzstimmen kommen). Allerdings erhöht das nicht ihre Chancen gegenüber den kleinen Parteien, weil sie lediglich die Ersatzstimmen von *bereits gescheiterten* Parteien erhalten. Die Ersatzstimmen führen hauptsächlich zu einer Veränderung der Stimmverteilung der erfolgreichen Parteien, da bspw. die Kleinparteiwähler nun auch "mitreden" können. Dadurch erhöht sich die Legitimität der resultierenden Wahlsieger.
+
+> [!question]- Große Parteien rauben den kleinen Parteien die Wähler
+> **Behauptung**: Die Erschließung von Wählern von Kleinparteien in große Parteien könnte den kleinen Parteien schaden.
+>
+> **Einordnung**: Diese Behauptung ist sehr hypothetisch. Das hängt stark von den Umständen, der involvierten Parteien, der Themen, der Erschließungsstrategie usw. ab. Es ist jedoch nicht ersichtlich, weshalb der behauptete Effekt großflächig kleinen Parteien schaden würde.
+
+> [!question]- Das jetzige Wahlsystem ist doch ausreichend
+> **Behauptung**: Deutschlands aktuelles Wahlsystem hat zwar seine Macken, aber dann ist das halt so! Es hat sich bewährt, never change a running system!
+>
+> **Einordnung**: Wir haben die Wahl: Entweder belassen wir das Wahlsystem so wie es ist und akzeptieren die Probleme und Schwächen wie mangelnde Repräsentativität, Millionen verlorener Stimmen, taktischer Wahl, Polarisierung, geringer Wahlbeteiligung bei Stichwahlen, unnötigen Durchführungskosten von Stichwahlen etc., oder wir ergreifen aktiv die Chance, eine echte Verbesserung für Deutschlands Demokratie zu erreichen.
+## Sonstiges
+Neben der entsprechenden Wahlgesetze müssen auch weitere Gesetze bei Einführung der Präferenzwahl angepasst werden.
+- **Parteienfinanzierung**: Vorschlag: Gänzlich nach Verteilung der Hauptstimmen orientieren, da diese unverfälscht die tatsächlichen Wählerpräferenzen widerspiegeln.
+## Weiterführende Links
+- [Buch von 2023: Mehr Demokratie Dank Ersatzstimme? ](https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783748914983/mehr-demokratie-dank-ersatzstimme?hitid=7152&search-click&page=1 )
+- [Gesetzesvorschlag zur Einführung der Ersatzstimme ins BWahlG](http://bwahlg.de/)
+- [RankedVote: Online-Präferenzwahltool](https://www.rankedvote.co/)
+- [RCVis: Visualisierungstool für Präferenzwahlen](https://www.rcvis.com/ )
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